Am 17. Februar 1971 bewachten die Soldaten Wolfgang Graner und Klaus H. die Grenze nahe dem thüringischen Geisa von einem Erdloch aus. Gegen Abend, es war bereits dunkel, hörten sie plötzlich Schritte. Sie überlegten, ob es sich um einen Grenzaufklärer handeln könnte, der allein seinen Wachdienst versah, und fragten den Mann, der sich ihnen nun schon auf 20 Meter angenähert hatte, nach der Parole. Der aber hielt nur kurz inne, zog eine Pistole und feuerte auf die Soldaten. Diese schossen sofort zurück. Der Angreifer brach, von zwei Kugeln schwer verletzt, zusammen. Gegen 20 Uhr starb er an inneren Blutungen im Krankenhaus Geisa. Neben persönlichen Dokumenten führte er Zettel mit diversen Adressen und Telefonnummern bei sich. Ausgerüstet war er mit einem Fernglas und zwei Magazinen sowie einer Packung mit 48 Patronen für seine Kleinkaliberpistole. Wer war der 24-jährige Mann, der sich aufgrund seines Ausweises als Frank Möller identifizieren ließ und der offensichtlich 250 Kilometer von seinem Wohnort Hitdorf im Rheinland aus zurückgelegt hatte, um bewaffnet in das DDR-Grenzgebiet einzudringen?
Frank Michael Wilhelm Möller stammte aus der DDR, er wurde am 14. Juli 1946 in Ichtershausen im Kreis Arnstadt geboren. Nach acht Jahren Schulbesuch begann er eine Ausbildung als Bauklempner, die er nach einem Arbeitsunfall wieder abbrechen musste. Im Bahnhof Arnstadt fand er 1964 eine Anstellung als Rangierer, doch schon im darauffolgenden Jahr berief ihn die NVA zu den Grenztruppen ein. Er hatte aus politischer Sicht einen guten Leumund, der Abschnittsbevollmächtigte aus Arnstadt lobte den Jugendfreund für seine „gute gesellschaftliche Mitarbeit“, auf die die anderen Jugendlichen im Ort aber eher mit Ablehnung reagierten. Frank Möller blieb der unfreiwillige Einzelgänger, auch nachdem er sich zu einem dreijährigen Militärdienst als Soldat auf Zeit verpflichtet hatte. In der Grenzkompanie Geisa galt er als „das schwarze Schaf“. Die Kameraden hänselten ihn wegen seiner Parteizugehörigkeit und Dienstverpflichtung. Die Vorgesetzten nutzten sein als naiv und labil beschriebenes Wesen aus, um ihm die ungeliebten Nacht- und Doppelschichten unterzuschieben. Allmählich realisierte Möller, dass man auf dem Wehrkreiskommando seine Dienstverpflichtung mit falschen Versprechungen erkauft hatte. Von der ersehnten Ausbildung zum Hundeführer war keine Rede mehr. Als am Abend des 19. Juli 1966 einige Grenzer in einer Kneipe wieder ihren Spaß mit ihm trieben, stand er schließlich vom Tisch auf und antwortete auf die verwunderte Frage, was er denn vorhabe: „Ich gehe jetzt meine privaten Wege.“
Im Bereich seiner Grenzkompanie kannte er die Pfade zu den Drahtsperren und durch den Minengürtel gut genug, um unbehelligt in die Bundesrepublik zu gelangen. Nach der Unterbringung in mehreren Aufnahmelagern und ausführlichen geheimdienstlichen Befragungen erhielt er einen Monat später in Kaufbeuren im Allgäu Unterkunft und Arbeit in der Stanzerei der Standard Elektrik Lorenz AG. In seinen Briefen nach Hause schwärmte er vom neuen Leben im Westen, er brachte aber ebenso seine Sehnsucht nach der Familie zum Ausdruck. Im Ort fand er eine Freundin, die ebenfalls aus der DDR stammte. Gemeinsam überkletterten sie in der Nacht des 10. Februar 1967 wieder die Grenzanlagen im Bereich der ehemaligen Kompanie Möllers und reisten nach Rudisleben zu seinen Eltern, die sehr gestaunt haben müssen, als das vergnügte junge Paar vor ihrer Tür stand und seine Verlobung bekanntgab. Sie würden jetzt in der DDR bleiben und sich hier eine neue Existenz aufbauen. Doch an der Polizei führte kein Weg vorbei. Als sie sich drei Tage später als Rückkehrer anmelden wollten, wurden sie sogleich verhaftet. Gegen Frank Möller lag ein Haftbefehl des Militärstaatsanwalts vor. Er sei „dringend verdächtig, die Einsatz- und Gefechtsbereitschaft der Einheit der Grenztruppen der NVA durch die Fahnenflucht nach der Westzone und die Sicherheit der DDR durch Militärspionage gefährdet zu haben.“
Während seine Verlobte in die Bundesrepublik ausgewiesen wurde, überführte das MfS Frank Möller in die Haftanstalt Hohenschönhausen nach Berlin-Lichtenberg. Man ging davon aus, dass der 20-Jährige vom BND als Agent angeworben wurde, um in der DDR Spionage zu betreiben. Dies sollte ein Geständnis belegen. Das MfS wollte erfahren, wie der bundesdeutsche Geheimdienst bei Anwerbungen vorgeht, wo diese stattfinden, wer sie durchführt und welche Aufträge dabei erteilt würden. In den nun folgenden zwei Monaten wurde Frank Möller teilweise mehrmals am Tag verhört. Schon bald erbrachte die Strategie der Untersuchungsabteilung, „eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen, ohne die Positionen zu verwischen“, den gewünschten Erfolg. Möller erklärte, dass er sich in der „Zentralen Stelle für Befragungswesen München“ bereiterklärt habe, zurück in die DDR zu gehen, um dort – bei finanzieller Entschädigung für die zu erwartende Haftzeit – für die westdeutsche Gesellschaftsordnung zu argumentieren. Er sei beauftragt worden, einen ausführlichen schriftlichen Bericht über die Untersuchungshaft und den Strafvollzug anzufertigen und diesen einer Kontaktperson zu übermitteln. Befriedigt hielt der MfS-Vernehmer in einer Beurteilung fest: Der Untersuchungshäftling „bereitete dem Sachbearbeiter keine Schwierigkeiten“.
Im Mai 1967 eröffnete das Militärobergericht in Berlin das Strafverfahren gegen Möller. Der Militärstaatsanwalt klagte ihn wegen „Fahnenflucht, Geheimnisverrats und Agententätigkeit“ an. Das Verfahren fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Es endete am 9. Juni 1967 mit Möllers Verurteilung zu fünf Jahren Zuchthaus. Eigens vermerkten die Richter, dass die „ehrliche Reue des Angeklagten, an der kein Zweifel besteht“ berücksichtigt worden sei. Frank Möller wurde in der Strafvollzugsanstalt Rummelsburg (Berlin-Lichtenberg) inhaftiert und zu schwerer körperlicher Arbeit eingeteilt, der er kaum gewachsen war. Schon bald stellte der Gefängnisarzt einen erheblichen Gewichtsverlust fest. Auch hörten die Vernehmungen durch das MfS, das von ihm mehrmals Auskünfte über Bundesbürger und DDR-Flüchtlinge verlangte, nicht auf. Schließlich wurde er aufgefordert, seine „Wiedergutmachung gegenüber der DDR“ als inoffizieller Mitarbeiter des MfS zu beweisen. Wahrscheinlich bot man ihm, wie in den Planungen des Führungsoffiziers vermerkt, eine Reduzierung des Strafmaßes „im Interesse seiner späteren operativen Nutzung“ an. So kam Frank Möller bereits eineinhalb Monate, nachdem er eine Verpflichtungserklärung der Stasi unterschrieben hatte, wieder auf freien Fuß.
Frank Möller hatte zwei Jahre und drei Monate der verhängten Haftstrafe verbüßt und konnte nun von den Eltern nach Rudisleben heimgeholt werden. Im Bahnhof Arnstadt trat er im Juni 1969 seine alte Stellung als Rangierer wieder an – doch nichts war so wie vor vier Jahren, bevor er zum Militärdienst eingezogen wurde. Das MfS lauerte auf die erwartete Verbindungsaufnahme durch den westlichen Geheimdienst, von der Möller in den Verhören gesprochen hatte, und überwachte ihn. Darüber hinaus wurde er als IM zu Kontakttreffen einbestellt. Noch im Gefängnis hatte ihm sein Führungsoffizier gedroht, dass das Ausbleiben einer ehrlichen „Wiedergutmachung“ „unweigerlich abermals zu einer harten Bestrafung führen“ würde. Nun sollte er über seine Kollegen im Bahnhof Arnstadt berichten. Unabhängig davon lud ihn das MfS während der Arbeitszeit zu weiteren Vernehmungen in die Kreisdienststelle. Wieder war Frank Möller jener, der auffiel, der anders war, der gemieden wurde. Aus seinen Briefen geht hervor, dass er schließlich panische Angst vor einer erneuten Inhaftierung bekam. Bewahrheitete sich eventuell die Vermutung seines Führungsoffiziers, „daß M. gar nicht im Auftrage des BND in die DDR zurückgekehrt war, sondern sich nur durch die Vortäuschung eines solchen Umstandes Vorteile verschaffen bzw. gemäß seinem Charakter interessant machen wollte“? Und rührte die Angst vor Bestrafung aus dem Umstand, dass sich Frank Möller nun in seine eigenen falschen Behauptungen verstrickt sah? Einen Halt mag er allein bei einer Kollegin gefunden haben, die als Zugabfertigerin arbeitete. Im Frühling 1969 verlobten sich beide miteinander. Ein Jahr später bestiegen sie einen Motorroller und fuhren in Richtung Bad Salzungen. Am 17. April 1970 meldeten die Grenzsoldaten der Kompanie Geisa einen Grenzdurchbruch. Bald ergaben die Ermittlungen, dass Frank Möller gemeinsam mit seiner Verlobten in die Bundesrepublik geflüchtet war. Die Ermittlungen liefen nun auf Hochtouren. Die Polizei durchsuchte das Zimmer, das er bei seinen Eltern bewohnt hatte, doch anstelle von Unterlagen, die ihn als Spion überführten, fanden sich nur einige Hefte mit Comics, die als „westdeutsche Schundliteratur“ eilig vernichtet wurden.
Es liegt nahe, dass Frank Möller nun auch in den bundesdeutschen Befragungsstellen für DDR-Flüchtlinge Misstrauen erregte. Wieviel von seiner Geschichte konnte er berichten? Was war wahr, was glaubwürdig? Die erhaltene Korrespondenz vermittelt ein irritierendes Bild. Mal schrieb er an die Eltern, dass er im Bahnbetriebswerk am Kölner Bahnhof arbeite und sich zum Schlosser ausbilden lasse. Dann wieder berichtete die Verlobte, dass er zur Nordsee fahren würde, um auf einem Schiff anzuheuern. Schon vier Monate nach seiner Flucht griffen ihn Zollgrenzbeamte im hessischen Setzelbach auf. Er behauptete, er habe gerade versucht, mit einem Kleinkalibergewehr bewaffnet eine Freundin aus der DDR zu holen, was aber von DDR-Grenzsoldaten mit Gewalt verhindert worden sei. Wahrscheinlich gelang es Frank Möller nicht mehr, in der Bundesrepublik zurechtzukommen. Auffällig ist, dass der früher stets sehr gepflegt wirkende Mann auf den letzten Fotografien seltsam verändert erscheint: Die Haare fallen struppig in die Stirn, der Bart ist verwildert, sein Parka abgewetzt. Irgendwann wird das Bedürfnis, nach Hause zurückzukehren, übergroß geworden sein, aber diese „privaten Wege“ zu beschreiten war nicht mehr möglich. Vielleicht wusste Frank Möller, was ihn erwarteten würde, als er am 17. Februar 1971 auf die beiden Grenzposten schoss.
Vergleiche die Biografie von Wolfgang Graner.