Am Nachmittag des 25. Oktober 1967 beobachtete Walter Scheider, der in der Nähe von Zimmerau in Bayern zusammen mit seinem sechsjährigen Sohn Klee erntete, einen Mann, der sich von westlicher Seite mit einem Fahrrad quer über die Felder zur Grenze der DDR bewegte. Dort angelangt, erkletterte dieser den Zaun, setze sich auf einen Betonpfeiler und begann, einen Apfel zu essen. Der Landwirt war alarmiert: „Geh zurück, es ist vermint!“, rief er dem augenscheinlich Lebensmüden zu. Aber der wiegelte ab, stieg schließlich auf die östliche Seite hinunter, stampfte auf die Erde und sagte: „Sieh her, da ist doch nichts, da sind keine Minen.“ – und ging weiter den Minengürtel entlang. Wenig später hörten Vater und Sohn eine detonierende Mine und einen Schrei, der im Knall einer zweiten Mine erstickte. Eine halbe Stunde lang konnte Walter Scheider noch ein leises Stöhnen hören, doch seine Versuche, ostdeutsche Grenzsoldaten zur Hilfe zu rufen, scheiterten. Dann verstummte der Verletzte. Er war verblutet.
Mit seiner Unbekümmertheit und Respektlosigkeit im Umgang mit dem Grenzregime musste Hasso Schüttler die Mitarbeiter der verschiedenen Ordnungsinstanzen der DDR oftmals zur Weißglut gebracht haben, scheiterte doch im Minenfeld sein zwölfter Versuch, in den östlichen Teilstaat zu gelangen. Hasso Schüttler wurde 1929 als Sohn des Schmiedes Karl Schüttler und seiner Ehefrau Klara in Berlin-Buchholz geboren. Aus der Schule schied er mit dem Zeugnis der 6. Klasse aus und nahm eine Lehre als Foto- und Lichtpauser auf. Nach Kriegsende war er in verschiedenen Arbeitsstellen beschäftigt, unter anderem als Hilfsschlosser und als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft. Seine Mutter lebte im Ostteil Berlins. Von 1949 an war er bei der Grenzpolizei der DDR tätig, wurde nach zwei Jahren entlassen und siedelte nach Westdeutschland über. Dort lebte er ohne festen Wohnsitz, arbeitete vor allem in der Landwirtschaft und unternahm – oft mit dem Fahrrad – ausgedehnte Touren durch Frankreich, Dänemark, Belgien, Schweden und Großbritannien, wobei er sich mit diversen Tätigkeiten über Wasser hielt. Zeitweise wohnte er auch bei seiner Tante im niedersächsischen Tostedt.
Im November 1964 griff ihn die Volkspolizei in Waren (Müritz) auf. Da war er ohne Geld und Einreisegenehmigung auf dem Weg von West-Berlin nach Rostock, um vielleicht, wie er dem vernehmenden Polizisten sagte, weiter nach Schweden zu reisen, aber das wisse er noch nicht so genau: „Ich bekomme manchmal solche Einfälle, daß ich ohne Vorbereitung in ein anderes Land fahre.“ Gegen den Mann, der, wie sich bei den Ermittlungen herausstellte, in diesem Jahr bereits von der Aufnahmestelle Oebisfelde und dem Aufnahmeheim Pritzier zurückgewiesen worden war, eröffnete die Polizei ein Ermittlungsverfahren, weil er gegen das Passgesetz verstoßen hatte, und überführte ihn in die Untersuchungshaftanstalt Neustrelitz. Doch als am 26. Februar 1965 die Hauptverhandlung eröffnet werden sollte, musste die Strafkammer das Verfahren unterbrechen. Der Angeklagte wirkte abwesend, dann wiederum aufmüpfig, verlor beim Reden schnell den Zusammenhang und wusste viele Fragen überhaupt nicht zu beantworten. Nach einer stationären Untersuchung im Krankenhaus für Neurologie und Psychiatrie in Neuruppin folgte das Gericht am 19. Mai 1965 dem psychiatrischen Gutachten, erklärte Hasso Schüttler für nicht schuldfähig und wies ihn nach West-Berlin aus. Aber was sollte er dort? Schüttler wollte in die DDR, ja er besaß sogar noch die Staatsbürgerschaft dieses Landes! Er ließ sich von seinem Anliegen nicht abbringen, und so wurde eine Vielzahl von Abweisungen aktenkundig, die ausgesprochen wurden, weil der Übersiedlungsersuchende entweder keine Papiere bei sich hatte oder bereits bei den ersten Aufnahmegesprächen aus dem Rahmen fiel. Ihn traf das Verdikt, ein „asozialer Provokateur“ zu sein. Am 13. Dezember 1965 wies ihn das Aufnahmeheim Pritzier zurück, am 3. Januar 1966 das Aufnahmeheim Barby, am 8. Februar 1966 das Aufnahmeheim Eisenach, am 4. Juli 1966 das Aufnahmeheim Berlin-Blankenfelde, am 6. Oktober 1966 die Grenzübergangsstelle Horst, am 4. September 1967 noch einmal das Aufnahmeheim Barby, und am 16. September 1967 griffen ihn die Grenztruppen bei Pötenitz auf und schleusten ihn zurück. Schon am 13. Oktober 1967 durchbrach er erneut die Grenze im Raum Rasdorf – Geisa. Er hatte keinen Ausweis bei sich, nur sein Fahrrad und eine Plastiktüte mit schmutziger Wäsche. Auf die Frage, warum er nicht über die Grenzübergangsstelle einreise, antwortete er, dass man ihn dort nicht mehr durchließe. Er kam wieder ins Aufnahmeheim Pritzier, wurde von dort ins Aufnahmeheim Eisenach verlegt und schließlich am 20. Oktober unter Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft in den Westen abgeschoben. Er sei ein „Landstreicher moderner Prägung“ beurteilte ihn der Aufnahmeleiter in Pritzier. Hasso Schüttler selbst trug einmal in die Spalte „Erlernter Beruf“ des Fragebogens für Rückkehrer/ Erstzuzug „Frei schaffender Grenzgänger“ ein. Aus Norderney schrieb er 1965 einen Brief an die „Untersuchungshaftanstalt (Stasie) Spionageabwehr Neustrelitz“: „Liebe STASI oder Maikäfer zu Deiner Kenntnis ich möchte dir nur schreiben, das es mir in Deutschland sehr schwer fällt zu Glauben das Einer für den Anderen da ist Time is Money sagt der Angelsachse für viele mag es stimmen. Mir fehlt es öfters an Geld aber Nie an Freiheit. Mir kann man weder Erpressen noch Kaufen. Wenn ich der Ansicht bin[,] es sind ein paar Kohlweißlinge am Werk[,] mir das Leben so schwer wie möglich zu machen oder Seelengleichrichter. Die meinen[,] Sie wüßten es besser Als Ich[,] was für Mich Tragbar ist oder nicht oder Zweckmäßig für DEUTSCHLANDs Zukunft. Ich unterstütze weder Großmäuler noch Parasiten[,] welche Uniform sie auch Tragen. Ob weiß[,] Schwarz oder Grün. Kurz und Gut[,] ich muß nach Frankreich meine Sachen holen.“
Vom Tod des 36-Jährigen, bereits fünf Tage nach der letzten Ausweisung, nahm das MfS keine Kenntnis. Die Dokumente der Leiche im Minenfeld waren so zerfetzt, dass sie nicht mehr entziffert werden konnten. Der MfS-Vorgang „Schüttler“, der immerhin sieben Mappen umfasst, wurde am 30. Juli 1976 dem Archiv übergeben: „Unsererseits besteht kein weiteres op. Interesse mehr an Sch.“ Zu dieser Zeit hatte sich die Mutter von Hasso Schüttler bereits das Leben genommen. Vermutlich hatte sie von den Behörden der DDR nie Klarheit über das Schicksal ihres Sohnes erhalten.