Es sollte ein Abschied für nur kurze Zeit sein. Als der Gefreite Kurt Hilmar Jürgen Kleesattl am 17. April 1967 mit dem Bus von seinen Eltern in Ziegenrück zur Grenzkompanie Dippach fuhr, erwartete er in acht Tagen seine Entlassung vom Grundwehrdienst. Die Karl-Marx-Universität Leipzig hatte seine Bewerbung für ein Studium an der veterinärmedizinischen Fakultät zwar abgelehnt, aber die ihm zugewiesene Hilfsarbeiterstelle im VEB Max-Hütte Unterwellenborn wollte er nutzen, um etwas Geld zu sparen und es später noch einmal mit einer Studienbewerbung zu versuchen. Wie er seinem Vater sagte, werde er notfalls auch ein Fernstudium aufnehmen. Beim letzten Heimaturlaub suchte sich Jürgen Kleesattl eine neue Tapete aus, da sein Zimmer noch in der Woche vor der Entlassung aus der Armee renoviert werden sollte. Als er im Bus eine Bekannte traf, schlug er ihr vor, „wenn ich in acht Tagen zurückkomme, […] da machen wir noch einen drauf“.
Groß muss die Trauer und Bestürzung der Eltern gewesen sein, die ihren Sohn in den nächsten Tagen zurück erwarteten, als ein Militärstaatsanwalt in Begleitung eines Politoffiziers aus dem Grenzbataillon ihnen die Nachricht vom Tod Jürgen Kleesattls überbrachte. Die Eltern konnten nicht fassen, was ihnen die beiden Abgesandten der Nationalen Volksarmee mitteilten. Gegen ihren Sohn sei die Schusswaffe angewandt worden, weil er seinerseits mit Waffengewalt die Grenze nach Westdeutschland durchbrechen wollte.
Nach der Erstmeldung des Kommandos der Grenztruppen trat Jürgen Kleesattl am 22. April 1967 gemeinsam mit dem Unteroffizier Harald G. um 22 Uhr den Grenzdienst an. Gegen 3.15 Uhr soll er in einem Bunker nahe der Grenzanlagen seinen Postenführer niedergeschlagen und ihm die Maschinenpistole und seine Leuchtspurwaffe entrissen haben. Dann sei er mit zwei MPis und der Leuchtpistole beladen zur Grenze gerannt. Unteroffizier G., der mehrere Kopfverletzungen erlitten hatte, soll ihn verfolgt und kurz vor dem Sechs-Meter-Kontrollstreifen am Grenzzaun eingeholt haben. Was dann geschah, erklärte Harald G. am 23. April vor dem Militärstaatsanwalt: Kleesattl habe die MPi auf ihn gerichtet und gedroht zu schießen. Dabei habe er geäußert, dass dies seine letzte Chance sei. Als G. versuchte, die Waffe zu ergreifen, habe Kleesattl ihn mit dem Kolben auf den Kopf geschlagen. „Nach dem Schlag“, berichtete G., „erfasste ich die Waffe, mit welcher er mich geschlagen hatte, mit beiden Händen.“ Während beide um die Waffe rangen, stürzten sie zu Boden. G. habe die MPi nicht mehr losgelassen. Schließlich sei es ihm gelungen, sie durchzuladen und auf den anfangs über ihn gebeugten Kleesattl mehrere Feuerstöße abzugeben. Er schoss dabei die auf Dauerfeuer eingestellte Waffe leer. Jürgen Kleesattl war sofort tot. Der Unteroffizier G. wechselte anschließend das Magazin und gab zwei weitere Feuerstöße in die Luft ab, um die Alarmgruppe herbeizurufen.
Einem Unteroffizier der Grenztruppen, der mit dem Schützen Harald G. auf einem Zimmer lag, gelang zehn Tage nach dem tödlichen Zwischenfall die Flucht in die Bundesrepublik. Er sagte gegenüber der Kriminalpolizei in Fulda aus, dass Harald G. am Tag des Geschehens um 6 Uhr mit verbundenem Kopf und ausgeschlagenen Schneidezähnen seine persönlichen Sachen aus der Stube geholt habe. Er habe den Kleesattl „zur Strecke gebracht“, soll G. zu dem verdutzten Unteroffizier gesagt haben. Auf Weisung Erich Honeckers vom 24. April 1967 wurde Harald G. zwei Tage später im Rahmen eines Empfanges in Straußberg von Heinz Hoffmann, Minister für Nationale Verteidigung, belobigt und zum Unterleutnant befördert. Am 2. Mai besuchte er seine Einheit und forderte in einer Ansprache die Kameraden auf, weiterhin die Staatsgrenze gut zu bewachen und zu sichern. Von Jürgen Kleesattl konnten Kameraden jedoch noch später lesen, was er gut zwei Wochen vor seinem Tod in die Bretterwand einer alten Holzhütte geritzt hatte, die den Grenzposten als Unterstand diente: „Kennst du das Land, wo niemals die Sonne lacht, wo man aus Menschen Idioten macht … noch 20 Tage … Gefr. J. Kleesattl“.
Eine Untersuchungskommission der Grenztruppe, die sich mit dem Zwischenfall beschäftigte, machte die Liebesbeziehung zu einer Französin als Fluchtmotiv des Gefreiten aus. Die junge Frau besuchte regelmäßig ihre Großeltern in der Nähe von Ziegenrück, wo sie und Jürgen Kleesattl einander kennengelernt hatten. Der Vater von Jürgen Kleesattl fand diese Behauptung „absurd“, es habe lediglich eine Freundschaft bestanden, und sein Sohn sei mit der jungen Frau bereits für den nächsten Sommerurlaub in Ziegenrück verabredet gewesen. Wie der Vater dem Militärstaatsanwalt mitteilte, war es dagegen zwischen seinem Sohn und einem Unteroffizier zu Spannungen gekommen, die sich einmal in einer Schlägerei entluden und „in Verachtung und Hass ausarteten“. Er erbat eine Wiederaufnahme des Verfahrens. „Könnte es nun in der fraglichen Nacht nicht zu einem heftigen Streit mit tätlichem Ausgang gekommen sein, in dessen Verlauf der Vorgesetzte von der Waffe Gebrauch machte? […] Jedenfalls können wir beeiden, dass unser Sohn nie nach Westdeutschland fliehen wollte.“ Über den Ausgang der daraufhin angestellten Nachermittlungen konnten keine schriftlichen Überlieferungen aufgefunden werden. Nach der Aussage von Harald G. habe es zwischen ihm und Kleesattl jedoch keine ernsthaften Auseinandersetzungen gegeben. Zwar seien sie zuweilen wegen dienstlicher Belange aneinandergeraten, doch habe das ihrem freundschaftlichen Verhältnis keinen Abbruch getan.
Die Ermittler der ZERV fanden in den 1990er Jahren trotz umfangreicher Untersuchungen keine Anhaltspunkte dafür, dass der von Harald G. beschriebene Ablauf des Geschehens nicht zutreffend wäre. Am 13. April 1999 wurde das Verfahren gegen ihn mit der Begründung eingestellt, er habe aus Notwehr zur Schusswaffe gegriffen.