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Biografisches Handbuch

Dieter Reinhardt

geboren am 15. Januar 1945 in Schönebeck/Elbe | erschossen am 19. August 1966 | Ort des Vorfalls: bei Nettgau, heute Ortsteil von Jübar (Sachsen-Anhalt)
BildunterschriftDieter Reinhardt
BildquelleBStU
Quelle: BStU
Nach einem Kneipenbesuch entschloss sich der Waffenunteroffizier Dieter Reinhardt zur Fahnenflucht in die Bundesrepublik. Er besorgte für sich und den Feldwebel Utz F. Pistolen. Zunächst liefen sie gemeinsam zur Grenze, dann kam es auf dem Kontrollstreifen zu einem Schusswechsel.

Ernst Dieter Reinhardt wurde 1945 in Schönebeck an der Elbe geboren. Kurz nach dem Krieg starb sein Vater. Die Mutter hielt die Familie, zu der noch zwei Schwestern gehörten, mit Strenge und Festigkeit zusammen. Nach der 8. Klasse kam Dieter Reinhardt mit 14 Jahren als Lehrling in die Betriebsberufsschule des Magdeburger Armaturenwerkes „Karl Marx“, wo er zum Dreher ausgebildet wurde. Bis zu seiner Einberufung zum Wehrdienst arbeitete er im VEB Traktorenwerk Schönebeck/Elbe, in einer LPG bei Osterburg und schließlich als Rangierer im Schönebecker Sprengstoffwerk. Bei der Nationalen Volksarmee verpflichtete sich der 19-Jährige als Soldat auf Zeit für drei Jahre. Zunächst zum MPi-Schützen ausgebildet, besuchte er einen Unteroffizierslehrgang und kam ab Oktober 1964 als Waffenfunktionsunteroffizier in der Grenzkompanie Nettgau (Gemeinde Jübar) zum Einsatz. Die Vorgesetzten beurteilten seine Dienstausführung als lustlos, er erfülle seine Pflichten nur widerwillig und nachlässig. Vielleicht bereute er im Nachhinein, sich für eine dreijährige Dienstzeit verpflichtet zu haben. Wenn er Alkohol trank, brachen latente Konflikte offen aus. Einmal bedrohte er einen Vorgesetzten mit der Pistole, um sich Ausgang zu verschaffen, ein anderes Mal musste man ihn betrunken aus den Grenzanlagen zurückholen.

Einen Halt versprach seine Freundin Renate S., die er im Dezember 1964 kennengelernt hatte. Sie wohnte in Gladdenstedt, einem Nachbarort von Nettgau. Im März 1966 verlobte sich das junge Paar. Im Frühjahr 1967, nach Reinhardts geplanter Entlassung aus dem Militärdienst, wollten sie heiraten. Renate S. erwartete ein Kind von ihm. Reinhardt wollte in Gladdenstedt bleiben und dort eine Arbeit aufnehmen.

Renate S. erinnerte sich später: „An dem Abend, als der Reinhardt angeblich flüchten wollte, kam er gegen 18 Uhr zu mir und brachte einen großen Blumenstrauß, den er zuvor von einem Feld pflückte. Er wollte nochmals bei mir vorbeikommen. Gegen 19 Uhr sah ich ihn dann mit dem Utz zusammen auf einem Lkw. Mir war klar, daß er nicht mehr nach Hause kommt, sondern mit dem Utz und den anderen Kameraden eine Ausfahrt macht.“

Der Kneipenbesuch in Diesdorf (Ortsteil Abbendorf) am 18. August 1966 endete für Dieter Reinhardt und den erwähnten Utz F. unvorhergesehen. Feldwebel Utz F. war Hundestaffelführer in der Grenzkompanie Nettgau. Seit 1964 war er geheimer Mitarbeiter des MfS mit dem Decknamen „Ulrich Franke“. Auch Reinhardt hatte sich zur Zusammenarbeit mit dem MfS verpflichtet. Doch während dieser nur allgemeine Berichte über die Stimmung in der Truppe abgeliefert hatte, ging Utz F. strategisch vor, um seine Aufgabe zu erfüllen, die „im Erkennen von Fahnenfluchten und anderen Anschlägen gegen die Staatsgrenze der DDR“ lag. Er zeigte sich seinen Kameraden gegenüber kumpelhaft und trinkfest und versuchte, ihr Vertrauen zu gewinnen, indem er sich den Vorgesetzten gegenüber aufmüpfig verhielt. Auf diese Weise hoffte er, anderen Soldaten etwas über Fahnenfluchtabsichten zu entlocken.

Sechs Grenzsoldaten verbrachten am Abend des 18. August ihren Ausgang gemeinsam mit Ernst Dieter Reinhardt und Utz F. in der „Schenkenmühle“. Bis kurz nach Mitternacht soll jeder von ihnen etwa 14 Gläser Bier und drei Gläser Weinbrand getrunken haben. Utz F. berichtete später der Stasi, dass Reinhardt ihn bei der Rückkehr auf das Kasernengelände mit den Worten angesprochen habe: „Komm, wir hauen ab!“ Er habe sich daraufhin zum Schein bereit erklärt, mit ihm zusammen in die Bundesrepublik zu flüchten, um „unwiderlegbare Beweise für dessen Vorhaben zu schaffen sowie die Fahnenflucht selbständig zu unterbinden“.

Dieter Reinhardt begab sich in der Kaserne dann zum diensthabenden Unteroffizier und forderte ihn auf, den Waffenraum aufzuschließen. Reinhardt gab vor, er habe von seinem Oberleutnant den Befehl erhalten, die Leucht- und Platzmunition, die Signalgeräte und das Nachtsichtgerät zu überprüfen. Der Diensthabende begab sich mit Reinhardt in die Waffenkammer und half ihm bei der angeblich angeordneten Untersuchung. Unterdessen kam es in der Küche zu einem Streit zwischen der Küchenfrau und einem Soldaten. Der Diensthabende verließ, um den Streit zu schlichten, für einige Minuten den Waffenraum. Reinhardt entwendete in dieser Zeit zwei Pistolen Makarow samt Munition. Als der Diensthabende zurückkam, übergab ihm Reinhardt den Schlüssel zur Waffenkammer, die er bereits wieder verschlossen hatte.

Währenddessen wies Utz F. die Hausposten der Kompanie an, ihn zusammen mit Reinhardt noch einmal vom Gelände zu lassen. Sie kämen bald zurück, er übernehme die Verantwortung. Anschließend traf er sich mit Reinhardt auf einer Toilette des Gebäudes und erhielt von ihm eine der Pistolen samt Munition. Ungehindert verließen sie gegen 2 Uhr das Gelände und gingen bis zum Ortsausgang von Nettgau. Die Straße, auf der sie sich nun bewegten, führte nach Gladdenstedt, wo Renate S. wohnte. Einen Moment lang mag Ernst Dieter Reinhardt an seine Verlobte gedacht und gezögert haben, dann schlug der Hausposten Alarm. Leuchtraketen wurden abgefeuert, die das Signal „Posten zur Grenze“ gaben. Reinhardt wusste, dass in wenigen Minuten die Grenze abgeriegelt sein würde. Er bog nach links ab, überkletterte einen Weidekoppelzaun und rannte auf die Grenzanlagen zu. Durch den Einsatz weiterer Posten drohte für Utz F. die Situation zu entgleiten: Wie sollte er sich rechtfertigen, wenn er mit einer gestohlenen Waffe in der Hand im Grenzgebiet gestellt würde? Gelänge Reinhardt die Flucht, so könnte man ihn der Beihilfe zu einem schweren Grenzdurchbruch beschuldigen. Er rannte hinter Reinhardt her, holte ihn am Kontrollstreifen ein und – so die Rekonstruktion des Landgerichts Stendal aus dem Jahr 1999 – schoss ihm mit ausgestrecktem Arm aus kürzester Entfernung in den Rücken. Reinhardt drehte sich daraufhin mit den Worten „du Schwein“ um und feuerte selbst einen Schuss auf Utz F. ab, der diesen jedoch verfehlte. Utz F. schoss nun hintereinander fünfmal auf Reinhardt, der im Brust- und Bauchbereich schwer getroffen zusammenbrach und kurz darauf an inneren Blutungen starb.

Utz F. lief anschließend zurück zur Straße und machte auf sich aufmerksam, indem er in die Luft feuerte und nach den Posten rief. Die bald darauf hinzugekommene Alarmgruppe der Kompanie überzeugte sich vom Tod Reinhardts. Nach dem Eintreffen des Militärstaatsanwaltes brachte man die Leiche zurück zur Kompanie. Die Zeugen wurden von Offizieren aus dem Stab vernommen und anschließend zum Stillschweigen verpflichtet. Nach der Obduktion wurde die Leiche Reinhardts zur Beerdigung freigegeben und in Schönebeck an der Elbe beigesetzt. Seine Tochter kam ein halbes Jahr nach seinem Tod, im Januar 1967, zur Welt.

Bei Utz F. hingegen prüfte das MfS, ob er nicht ebenfalls fahnenflüchtig werden wollte. Bis zum 17. September 1966 dauerte seine Untersuchungshaft in Berlin-Lichtenberg, dann hob das Militärgericht Berlin den Haftbefehl auf. Er wurde aus den Grenztruppen entlassen und blieb bis 1989 im Staatssicherheitsdienst, zuletzt als Oberleutnant. Das Landgericht Stendal verurteilte den 56-Jährigen am 26. November 1999 wegen Mordes zu einer Haftstrafe von vier Jahren.


Biografie von Dieter Reinhardt, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/151-dieter-reinhardt/, Letzter Zugriff: 29.03.2024