In Jena sprach man im November 1963 hinter vorgehaltener Hand über den gescheiterten Fluchtversuch eines 22-jährigen Werkzeugmachers aus der Stadt. Es handelte sich um Dieter Walter Otto Fürneisen, der in einem Minenfeld an der Grenze zwischen Thüringen und Bayern auf grauenvolle Weise ums Leben gekommen war.
Dieter Fürneisen wuchs im thüringischen Jena auf. Seine Eltern lebten in Scheidung, eine seiner Schwestern wohnte weiterhin in Jena, die andere jedoch im hessischen Wetzlar. Mit seiner Freundin hatte Dieter Fürneisen eine kleine Tochter. Er arbeitete als Werkzeugmacher, zog Anfang September 1963 nach Gera und kam dort im Wohnheim der Wismut unter. Seine sportliche Leidenschaft galt dem Ringkampf, in Jena gewann er eine Stadtmeisterschaft. Roman Grafe schreibt in seinem Buch Die Grenze durch Deutschland, Dieter Fürneisen habe sich Anfang der 1960er Jahre „regelmäßig mit einem Dutzend Gleichaltriger unter der Normaluhr zum Fußball, im Cafe ‚Paradies‘ oder im ‚Volkshaus‘ zum Tanzen getroffen“. Alle trugen ein Marienkäfer Abzeichen als Erkennungssymbol – die Jenaer MfS-Kreisdienststelle vermutete „Bandenbildung“ und sah eine staatsfeindliche Gruppe am Werk. Die „Gruppe Fürneisen“ wurde observiert. Ein Stasi-Spitzel berichtete, Dieter Fürneisen habe eine Vorliebe für heiße Musik und würde danach „unanständig tanzen“. Ein Stasi-Mitarbeiter schrieb: „In der ‚Gruppe Fürneisen‘ werde ‚Radio Luxemburg‘ gehört, man sah die jungen Leute wüst tanzen, hotten bzw. Rock’n‘Roll tanzen“. Auch hätten sie sich darüber unterhalten, wie man am besten die Republik verlassen könne.
Seine Schwester Elke wusste nach eigenen Angaben nichts Konkretes über die geplante Flucht, ihr Bruder habe lediglich vage von seiner Absicht gesprochen, die DDR zu verlassen. Ursprünglich wollte er seine kleine Tochter in einem Rucksack mitnehmen und später seine Freundin nachholen. Doch rieten ihm Freunde, erst einmal allein in den Westen zu gehen und die Lage dort zu erkunden. Elke Fürneisen erklärte gegenüber Roman Grafe: „Einen Tag, bevor mein Bruder sich auf den Weg machte, wurde John F. Kennedy ermordet. Da habe ich noch mit Dieter drüber gesprochen, da haben wir noch geweint. Kennedy sollte uns doch von dem Ganzen hier erlösen. Der kam doch nach Berlin, der stand doch an der Mauer und wir haben gejubelt: ‚Mensch, Amerika, hilf uns‘. Nach dem Attentat auf Kennedy sahen wir unsere Chance, daß es mal besser geht, dahinfließen. Da wird Dieter gedacht haben: Jetzt ist es ganz vorbei, jetzt dauert es wieder lange, bevor sich was ändert. Jetzt mach ich’s. Er hatte sich noch ein Parteiabzeichen besorgt und es sich angesteckt für den Fall, dass man ihn auf dem Weg zur Grenze anhält. Das haben wir dann noch zurückbekommen. Dieter hatte uns davon nichts gesagt. Nur meiner Mutter hinterließ er einen Brief: ‚Liebe Mutti! Ich werde dich immer in Ehren halten. Du warst für mich die Liebste. Dein dich liebender Sohn Dieter.‘“
Am Totensonntag, dem 24. November 1963, versuchte Dieter Fürneisen gegen 7.30 Uhr, die DDR-Grenzanlagen etwa einen halben Kilometer westlich von Zopten in Thüringen zu überwinden. Er durchtrennte die Stacheldrahtsperre und geriet unmittelbar danach in ein Minenfeld. Etwa 400 Meter von der Grenze entfernt löste er eine Erdmine aus, die ihm ein Bein abriss. Er schleppte sich dennoch einige Meter weiter, als eine zweite Mine detonierte, die ihm einen Teil des Kopfes und eine Hand abriss und zu seinem sofortigen Tod führte. Laut einer Tagesmeldung des Kommandos Grenztruppen wurden Körperteile und Bekleidungsstücke noch 60 Meter von dem Explosionsort entfernt aufgefunden. Erst mehrere Stunden später gegen 15.15 Uhr bargen Soldaten der Pioniereinheit des Grenzregiments 11 die sterblichen Überreste Dieter Fürneisens und überführten seinen Leichnam in einem versiegelten Sarg in das Volkspolizeikreisamt nach Saalfeld.
Noch am gleichen Tag erfolgten eine Hausdurchsuchung und die Vernehmungen von Mutter und Schwester. Die Todesmitteilung erhielten sie im Nachhinein von der Kriminalpolizei erst einen Tag später. Vier Tage nach der gescheiterten Flucht, am 28. November, fand die Trauerfeier für Dieter Fürneisen auf dem Nordfriedhof in Jena statt. Der versiegelte Sarg durfte nicht geöffnet werden, die Angehörigen konnten den Toten nicht noch einmal sehen. Nach der Zeremonie wurde der Sarg direkt zum Krematorium gebracht und dort verbrannt. Im Sterberegister des Friedhofsamts ist der Sterbefall als „unnatürlicher Tod“ eingetragen. Fürneisens Mutter litt nach Angaben ihrer Tochter sehr unter dem Verlust. Es gelang ihr trotz aller Bemühungen nicht, die genauen Todesumstände ihres Sohnes in Erfahrung zu bringen.
Nach der Wiedervereinigung sagte der damalige Oberoffizier Pionierdienste im Grenzregiment 11 Heinz F. den Ermittlern, dass der Regimentskommandeur ihm am 24. November 1963 zunächst untersagt hatte, „den Toten aus der Minensperre zu bergen und ihn entsprechend würdig abzulegen, damit das Geschehen aus der Ortschaft Zopten, in einer Entfernung von 300 m, nicht einsehbar war. Dieser Befehl wurde nicht erteilt und mir wurde das Betreten der Minensperre verboten.“ Die Bergung dieses Toten erfolgte dann erst Stunden später nach dem Eintreffen des Pionierkommandeurs der Grenzbrigade. Heinz F. erklärte weiter, „daß mich dieses Vorkommnis sehr lange beschäftigte, daß ich mich aus moralischer Sicht als Pionieroffizier der Grenztruppen mitverantwortlich fühlte. In persönlicher Auseinandersetzung mit diesem Vorkommnis stellte ich mir die Frage, wie diese Person unbefugt und ohne Hinderung in das Minenfeld gelangen konnte, da der Sperrabschnitt und die Minenfelder bis zu einem Kilometer Tiefe in das Territorium der DDR hineinführten und sich unmittelbar am Rand des Schutzstreifens befanden. […] Weiterhin kam ich zu dem Schluß, daß die Anzahl und Menge der vorhandenen Minenfelder und minengesperrten Abschnitte an der gesamten Staatsgrenze der DDR im groben Mißverhältnis zu den vorhandenen Kräften stand, die für deren Sicherung zuständig waren.“ Ihm sei klargeworden, dass die Verantwortungsträger, „die die Verminung der Staatsgrenze festlegten, beschlossen und befohlen haben, diesen Umstand wissen mußten und vorsätzlich die Verletzung und Tötung in Kauf nahmen“.
Des Landgerichts Dresden stellte am 10. Januar 2000 das Verfahren gegen den wegen Totschlags zum Nachteil von Dieter Fürneisen angeklagten Kompaniechef Rudolf B. wegen Verhandlungsunfähigkeit ein.