Am Nachmittag des 13. August 1963 fand in Nordhausen eine ungewöhnliche Beerdigung statt. Von Ellrich her kam ein Leichenwagen auf den Friedhof gefahren. Dort wartete bereits ein Angehöriger der Volkspolizei. Er überzeugte sich, dass die Leiche, eine 18 Jahre alte Frau, ordnungsgemäß eingesargt war: Sie trug ein handelsübliches Leichenhemd, ihr Kopf ruhte auf einem Kissen, der Körper war zugedeckt. Dann ordnete er die sofortige Beisetzung an. Vielleicht hatte er sich vorher einen Moment unschlüssig umgesehen, aber es war keine Trauergemeinde anwesend, niemand sollte am Grab Worte des Gedenkens sprechen.
Frieda Klein, geborene Luitjens, war genau ein Jahr zuvor aus Gelsenkirchen gemeinsam mit ihrem Verlobten in die DDR gekommen. Es schien ihr der einzige Ausweg: Sie hatte von ihrem 18-jährigen Verlobten ein Kind erwartet. Doch um heiraten und einen gemeinsamen Haushalt gründen zu können, benötigte die nach damaligem westdeutschem Recht Minderjährige eine Einverständniserklärung der Eltern. Diese waren mit der Verbindung jedoch nicht einverstanden. Frieda Klein fürchtete, mit dem Kind zu Hause abgewiesen, vielleicht sogar in ein Erziehungsheim gebracht zu werden. Die DDR dagegen sprach jungen Menschen bereits mit 18 Jahren die Volljährigkeit zu. Bei Walkenried überschritt Frieda Klein mit ihrem Verlobten die grüne Grenze.
Nach einem zweiwöchigen Aufenthalt in einem Eisenacher Aufnahmeheim erhielt das junge Paar eine Wohnung in Erfurt und heiratete dort.
Am Abend des 9. August 1963 fuhren sie mit dem Abendzug nach Nordhausen. Von dort aus querfeldein laufend, versuchten sie zunächst Ellrich zu erreichen, um weiter nach Walkenried zu gelangen. Nur mit einem Kompass ausgerüstet, verfehlten sie jedoch ihr Ziel. Gegen Morgen öffnete sich bei Gudersleben vor ihnen der Wald und gab die Sicht auf die Grenzanlagen frei, die in überraschender Nähe, nur etwa 70 Meter entfernt, verliefen. Nach einigem Suchen fanden sie einen Abschnitt, der von keinem der Wachtürme aus einsehbar war. Als sie jedoch begannen, auf die Grenze zuzulaufen, wurden zwei Grenzsoldaten, die am Waldrand patrouillierten, auf sie aufmerksam. Reinhard E. und Horst H. riefen den beiden zu, sie sollen stehenbleiben. Doch die Flüchtenden zeigten keine Reaktion und kamen der Grenze immer näher. So befahl der Postenführer Warn- und gleich darauf Zielschüsse abzugeben. Die Grenzer feuerten mehr als 40 Schüsse auf die „Grenzverletzer“ ab.
Vom Grenzalarm herbeigerufen, bot sich dem stellvertretenden Kommandeur der 3. Grenzkompanie des Grenzregiments Nordhausen ein irritierendes Bild. Postenführer Reinhard E. kniete bei einer auf dem Boden liegenden Frau, weinte und klagte, dass er dies nicht gewollt und doch nur auf die Beine gezielt habe. Sein Kamerad Horst H. bewachte, ebenso schockiert, am Waldrand ihren unverletzt gebliebenen Begleiter. Peter Klein hatte die „Halt!“-Rufe der Grenzsoldaten, die 300 bis 400 Meter entfernt gestanden haben, nicht gehört. Erst als er die Schüsse bemerkte, zog er seine Frau in eine Senke und hob die Hände. Doch die schwangere Frieda Klein war bereits getroffen und durch einen Beckenschuss schwer verletzt worden. Wie wollten die Grenzsoldaten auch bei dieser Entfernung mit Maschinenpistolen gezielt daneben oder in die Beine schießen? Der stellvertretende Kommandeur hatte nun mehrere Aufgaben: Er beruhigte den Postenführer, setzte eine Meldung über das Geschehen ab und forderte einen Sanitätswagen an, der Frieda Klein ins Krankenhaus nach Ilfeld bringen sollte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits das Bewusstsein verloren. Sie und mit ihr das ungeborene Kind starben noch während des Transportes an inneren Verblutungen.
Stasi-IM „Ellen Rothe“ berichtete aus dem Krankenhaus, dass den Soldaten, die mit ihrem Militärfahrzeug die Leiche einer erschossenen, schwangeren Frau im Krankenhaus Ilfeld einlieferten, schiere Empörung entgegenschlug. Der Arzt der Notaufnahme habe die Schützen als „Schweine“ bezeichnet, der Chefarzt habe geäußert, dass Deutsche nicht auf Deutsche schießen dürften, und ein weiterer Arzt habe sich geweigert, einen manipulierten Totenschein auszustellen. „Ich kann doch nicht schreiben, das ist ein Unfall.“ Peter Klein wurde vor dem Kreisgericht Nordhausen wegen versuchten Grenzdurchbruchs zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und sieben Monaten verurteilt. Die Haftstrafe wurde später zur Bewährung ausgesetzt. Es bedurfte noch diverser Anstrengungen, bis er 1974 wieder in die Bundesrepublik zurückkehren konnte. Die Erinnerungen an den Anblick seiner sterbenden Frau und der Schmerz über seinen Verlust ließen ihn auch dort nicht los. Als er 1992 dem britischen Fernsehen ein Interview zu dem schrecklichen Erlebnis gab, brach Peter Klein in Tränen aus. „Sie hat nichts vom Leben gehabt. Sie war jung, sie hat keinem Menschen was getan, niemandem. Wollte nach Hause, hatte Heimweh.“
Reinhard E. und Horst H. erhielten für die Tat, die auf ihren Gewissen lastete, nicht nur die Medaille „Für vorbildlichen Grenzdienst“. In Lehrgängen mussten sie Offiziersschüler dazu anhalten, ebenso auf Flüchtlinge zu schießen, wie sie es getan hatten. Das, was sie wohl am liebsten aus ihrem Gedächtnis gestrichen hätten, wurde zur Norm für die „vorbildliche Erfüllung ihres Kampfbefehls“ erklärt. Horst H. erklärte 1992 bei seiner polizeilichen Vernehmung: „Wir wurden mehrmals an verschiedenen Orten als Helden und Vorbilder für korrektes Handeln dargestellt. Das fand ich und finde ich noch heute richtig zum Kotzen.“ Die Staatsanwaltschaft Erfurt stellte am 9. Mai 1995 die Ermittlungen gegen Horst H. ein, da nicht davon ausgegangen werden konnte, dass er mit Tötungsvorsatz auf die Flüchtlinge geschossen habe. Sein ehemaliger Postenführer Reinhard E. verstarb, bevor die Anklage gegen ihn wegen Totschlags verhandelt werden konnte. Ein 1996 eingeleitetes Verfahren gegen den Kompaniechef der 3. Grenzkompanie des Grenzregiments 5 Nordhausen wurde vom Landgericht Dresden wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt.