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Biografisches Handbuch

Lutz Balzer

geboren am 6. Januar 1955 in Radeberg | tot geborgen am 19. September 1979 in der Ostsee vor Kap Arkona | Ort des Vorfalls: Ostsee
BildunterschriftLutz Balzer
BildquellePrivat, Anja Marksen
Quelle: Privat, Anja Marksen
Lutz Balzer versuchte im Herbst 1979 gemeinsam mit seiner Frau Manuela Balzer und seinem Bruder Ulf mit dessen Familie, die Ostsee mittels eines aus zwei Faltbooten konstruierten Katamarans in Richtung Freiheit zu überqueren. Die fünf gerieten auf See in einen Sturmausläufer und ertranken schließlich alle.

Lutz Balzer wurde am 6. Januar 1955 in Radeberg bei Dresden geboren. Er wohnte mit seiner Frau Manuela in Arnsdorf und war dort als Transportarbeiter im VEB Profilierwerk Arnsdorf beschäftigt. Das war sicher nicht sein Traumberuf, denn zunächst hatte er im Malerbetrieb „Palette“ eine Ausbildung zum Maler absolviert, um dann später eine Ausbildung zum Krankenpfleger im Bezirkskrankenhaus in Arnsdorf durchzuführen. Dafür hatte er dort auch zwischenzeitlich als Pflegehelfer gearbeitet. Manuela war ebenfalls im Bezirkskrankenhaus als Krankenschwester tätig – wahrscheinlich haben sich die beiden dort kennengelernt.

Lutz wurde als humorvoller und abenteuerlustiger junger Mann beschrieben. Seine große Leidenschaft waren Motorräder, mit denen er auch Ausfahrten ins so genannte sozialistische Ausland unternahm. Sein großer Bruder Ulf wohnte mit seiner Frau Renate und der zweijährigen Tochter Ines ebenfalls in Arnsdorf und arbeitete im selben Betrieb. Er war technisch sehr begabt und hatte seinem kleinen Bruder Lutz eine 350er „Jawa“ aufgemotzt. Die beiden Brüder hatten eine zehn Jahre jüngere Schwester, die erst nach deren Tod davon erfahren hatte, dass ihre Familie eigentlich viel größer gewesen war. Sie hat nach der tragisch verlaufenen Flucht das Andenken an die beiden (kleinen) Familien aufrechterhalten. Die Balzers waren Teil eines recht großen Bekannten- und Freundeskreises, der sich um den Jugendklub der Kleinstadt gebildet hatte. In diesem Freundeskreis verstand man sich als eher westlich orientiert.

Es ist bis heute weder im Freundeskreis der beiden Familien noch in deren familiären Umfeld bekannt, warum genau die vier Erwachsenen mit der kleinen Ines die DDR verlassen wollten. Natürlich ist da die recht offen gezeigte Vorliebe für westliche Kultur, doch konkret hat sich anscheinend niemand von ihnen je zu den Fluchtabsichten geäußert. Im Sommer 1979 hatten Lutz und Manuela geheiratet. Anlässlich des davor begangenen Polterabends am Knappensee hatte Lutz auch offen im Freundeskreis über die Fluchtabsichten der zwei Familien und ihren Plan, dafür mittels des selbstgebauten Katamarans die Ostsee zu überqueren, gesprochen. Aber zu den Gründen hatte er damals nichts gesagt.

Den einzigen Hinweis auf eine Fluchtursache hatte der Vater der beiden 1992 gegenüber Christine Vogt-Müller geäußert: Demnach habe die Staatssicherheit versucht, seinen Sohn Ulf mit einem Waffenvergehen als Druckmittel zur Arbeit für sie zu nötigen. Daran kann sich aber kein Zeitzeuge erinnern, noch nicht einmal ein sehr guter Freund Ulfs, mit dem dieser fast täglich laufen war. Die Gründe werden heute nicht mehr zu ermitteln sein, umso dramatischer ist der Verlauf der Flucht.

Die Fünf reisten im September 1979 mit zwei Autos nach Rügen, jedoch nicht alle auf einmal. Eine erste Gruppe, zu der auch Lutz gehörte, fuhr bereits am 31. August. Die zweite Gruppe mit Manuela kam dann am 6. September nach, denn Manuela hatte zuvor noch ihre Prüfung zur Krankenschwester ablegen wollen. Auf Rügen angekommen, mieteten sich alle auf dem Zeltplatz Nonnevitz ein, der im Küstenwald direkt hinter dem Nordstrand Rügens liegt. Da es sich um den Stammplatz der beiden Familien und ihrer Freunde im Sommer handelte, erweckte ihre Ankunft dort so spät im Jahr keine besondere Aufmerksamkeit. Am 10. September 1979 wurden die Balzers gegen 14:00 Uhr zum letzten Mal auf dem Gelände in der Nähe ihrer Zelte gesehen. Die beiden Familien führten zwei Faltboote mit sich, die sie in der Nacht des 10. September zusammensetzen und mit einer Holzkonstruktion zu einem improvisierten Katamaran verbinden wollten, der mittels eines ebenfalls mitgebrachten Außenbordmotors angetrieben werden sollte. Den Motor hatte Ulf Balzer in Heimarbeit mit Unterstützung seiner Freunde selbst gebaut, aber niemand hatte geahnt, wofür. Erster Anlaufpunkt des Katamarans sollte wahrscheinlich Schweden sein, denn in Ulfs PKW fanden die DDR-Ermittler einen Sprachführer „Deutsch – Schwedisch“.

Das Zusammensetzen des Faltbootkatamarans scheint gelungen zu sein und die See erschien der kleinen Gruppe schiffbar. Eine schwere Fehleinschätzung, die womöglich mit dem Mut der Verzweiflung zu erklären ist. Das zumindest Lutz und Renate Balzer Angst vor der Umsetzung ihres Vorhabens hatten, zeigen ihre Sektionsprotokolle: Beide hatten zum Zeitpunkt ihres Todes das Beruhigungsmittel „Faustan“ eingenommen, welches auch gegen Angstzustände angewandt wurde und in der DDR eine weite Verbreitung hatte. Auf der offenen Ostsee gerieten die Fünf in die Ausläufer eines Sturmtiefs, das kurz zuvor noch als Hurrikan eingestuft war. Offensichtlich hielt der Katamaran den Naturgewalten nicht stand, denn alle Insassen des Gefährts ertranken im Verlauf der Flucht in der Ostsee. Die Überreste des Faltbootkatamarans wurden später vom DDR-Trawler „Gera“ in dessen Grundschleppnetz geborgen. Dabei wurde auch eine Tasche entdeckt, in der sich unter anderem die Personalausweise von Lutz, Manuela und Renate Balzer befanden. Am 19. September 1979 wurde Lutz Balzers Leiche etwa zehn Seemeilen nordwestlich vom Kap Arkona im Grundschleppnetz des Sassnitzer Fischkutters „STR 173“ geborgen. In seiner Hosentasche befand sich noch ein auf seinen Namen ausgestellter Lohnstreifen. Im September 1979 wurde er in Bergen auf Rügen von seinen Eltern identifiziert. Im Lauf der folgenden acht Tage wurden im selben Seegebiet dann die Leichen seiner Schwägerin Renate und seiner Nichte Ines aus der Ostsee geborgen. Die Leiche seiner Frau Manuela dagegen wurde erst am 14. Februar des nächsten Jahres geborgen, ebenfalls aus dem gleichen Seegebiet.

Aus erbrechtlichen Gründen setzte das Kreisgericht Dresden-Land als Todeszeitpunkt für alle Fünf den 10. September 1979 fest. Das Volkspolizeikreisamt Rügen deklarierte den Vorgang als Badeunfall und die Eltern von Ulf und Lutz Balzer wurden genötigt, diese Legende aufrecht zu erhalten. Ihr Leben war durch ständige „Besuche“ der Volkspolizei und Staatssicherheit unerträglich geworden – dank dieses letzten Gehorsams erlaubten man den beiden schließlich die Ausreise aus der DDR, bei der sie auch die Urne von Lutz mit sich nahmen.

Es bleibt für Freunde, Bekannte und die Familie bis heute rätselhaft, warum die Fünf trotz des schlechten Wetters ihren Versuch nicht abbrachen. Bis heute bleibt die Annahme, dass Balzers irgendeine Verabredung mit Kontakten im Westen hatten, die sie unbedingt einhalten wollten. Dafür gibt es aber keine Belege.


Biografie von Lutz Balzer, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/489-lutz-balzer/, Letzter Zugriff: 23.11.2024