Reinhard Poser kam am 15. Juni 1953 in Karl-Marx-Stadt zur Welt. Seine Eltern, Waltraud Poser, geb. Raßmann, Jg. 1933 und sein Vater Heinz Poser, Jg. 1929, waren gebürtige Chemnitzer. Sie flüchteten im Oktober 1953 mit ihren beiden Kindern Karin und Reinhard nach Westdeutschland. Dort trennten sich die Eheleute und Waltraud Poser brachte ihren kleinen Sohn zur den Großeltern Ernst und Hilde Raßmann nach Karl-Marx-Stadt, anschließend kehrte sie in Bundesrepublik zurück. Als seine Großmutter 1957 starb, wollte eine entferne Verwandte in Delbrück (Nordrhein-Westfalen) Reinhard Poser zu sich nehmen. Obwohl ihr mit Zustimmung seiner Mutter die Vormundschaft zugesprochen wurde, wiesen die DDR-Behörden den Vierjährigen in das Vorschulheim Gränitz, das sich in dem 1945 enteigneten Gutshaus Gränitz, Kreis Brand-Erbisdorf, befand. Es folgte eine Odyssee durch mehrere Kinderheime. Von 1960 bis 1966 lebte Reinhard Poser im Kinderheim Großhartmannsdorf, von 1967 bis 1970 im Kinderheim Bernsdorf und von 1970 bis 1973 in einem Jugendwohnheim in der Annabergerstraße in Karl-Marx-Stadt. Nach dem Abschluss seiner Lehre als Installateur beim VEB Technische Gebäudeausrüstung (TGA) Karl-Marx-Stadt wohnte er erstmals durch Vermittlung seines Betriebes in einer eigenen Unterkunft in der Winkler Straße 19.
Reinhard Poser hatte die allgemeinbildende polytechnische Oberschule Bernsdorf II besucht und die 10. Klasse mit „gut“ abgeschlossen. In Beurteilungen aus seiner Lehrzeit wurde sein Widerspruchsgeist kritisiert, er sei „launisch, egoistisch und unkonsquent“. Er habe zum „negativen Kern“ der Lehrlinge gehört und andere zu Disziplinlosigkeiten verleitet. Gesellschaftliche Aufgaben habe er erst nach mehrfacher Aufforderung ausgeführt und keine Eigeninitiative gezeigt. Nachdem er mit anderen Jugendlichen in eine Kirche eingebrochen war und kirchliches Eigentum entwendet hatte, wurde Reinhard Poser wegen mehrfachen gemeinsamen Diebstals und unbefugtem benutzen von Kraftfahrzeugen am 29. September 1971 zu einer 6-monatigen Bewährungsstrafe verurteilt. Nach dem Abschluss seiner Lehre beschäftigte ihn der VEB TGA als Installateur. In seiner Freizeit widmete sich Reinhard Poser in der GST dem Fallschirmspringen.
Mit seiner zwei Jahre älteren Schwester Karin Herbert, die in Frankfurt am Main wohnte, stand Reinhard Poser in Briefkontakt. Sie besuchte ihn im Frühjahr 1973 in Karl-Marx-Stadt. Am 22. September 1973 nahmen ČSSR-Grenzsoldaten ihn in der Nähe der Staatsgrenze zu Österreich fest. Poser war am 21. September mit seinem Motorrad zum Urlaub in die Tschechoslowakei eingereist und über Prag nach Jihlava (Böhmen) gefahren. Dort übernachtete er und fuhr am folgenden Tag in Richtung Bratislava. Bei der slowakischen Gemeinde Stupava verließ er die Hauptstraße und fuhr an der Staatsgrenze entlang. Er geriet in eine Kontrolle durch ČSSR-Grenzer und wurde festgenommen. Bei der Durchsuchung fand man bei ihm drei Landkarten des Grenzgebietes und einen Dolch. Poser gab an, sich verfahren zu haben. Eine Absicht der illegalen Grenzüberschreitung konnte ihm nicht nachgewiesen werden. In der Vernehmung sagte Poser angeblich aus, seine Tante habe ihn aufgefordert, einen Antrag auf Übersiedlung in die Bundesrepublik zu stellen. Er sei diesem Ansinnen jedoch nicht nachgekommen, da sich das Lebensniveau zwischen der DDR und der Bundesrepublik nicht sonderlich unterscheide. Seine Vernehmer forderten Poser auf, bis zum 24. September 1973 die ČSSR wieder zu verlassen. Zurück in Karl-Marx-Stadt versicherte er nach Vernehmungen und „Aussprachen“ gegenüber dem DDR-Staatssicherheitsdienst in einer eidesstattlichen Erklärung, „ich hatte nicht die Absicht, die DDR auf ungesetzlichem Wege zu verlassen“ und „ich bemühe mich bzw. verpflichte mich, die Gesetze der DDR einzuhalten“.
Einer Aktennotiz der für die Überwachung seines Betriebes zuständigen Abteilung XVIII/Bau des DDR-Staatssicherheitsdienstes vom 11. Juni 1974 ist zu entnehmen, dass Reinhard Poser vom 6. bis 20. Juli 1974 Besuch von seiner Schwester erhielt. Ob die Geschwister sich in dieser Zeit über eine mögliche Flucht Posers aus der DDR unterhielten ist nicht bekannt. Drei Wochen später brach er mit seinem Motorrad zu einer genehmigten Urlaubsreise nach Bulgarien auf.
Laut einem Untersuchungsbericht des bulgarischen Staatssicherheitsdienstes vom 10. August 1974 war Reinhard Poser am 5. August als Individualtourist in Bulgarien eingereist und hatte in Varna ein Quartier bei Balkantourist genommen. Am Morgen des 8. August habe er gegen 8.55 Uhr einen Grenzalarm ausgelöst, als er einen Signalzaun an der bulgarisch-türkischen Grenze überwand. Um 9.52 Uhr entdeckte ihn eine Einheit des Grenzschutzes in der Nähe des Dorfes Rezovo. Der Flüchtling habe sich rückwärts gehend in Richtung Türkei bewegt. Als die Soldaten ihn anriefen und Warnschüsse abfeuerten, habe er sich umgedreht und sei zum noch etwa 20 Meter entfernten Grenzkontrollstreifen geeilt. Da seine Flucht auf andere Weise nicht mehr zu verhindern gewesen sei, habe der Schütze Angel Ivanov Angelov den Beschuss eröffnet und Reinhard Poser tödlich getroffen. Der 21-Jährige sei sofort gestorben.
Am 9. August 1974 informierte DDR-Botschafter Werner Wenning den stellvertretenden DDR-Außenminister Herbert Krolikowski telefonisch darüber, dass am Vortag der DDR-Bürger Reinhard Poser beim Versuch die bulgarische Grenze zur Türkei zu überqueren in der Nähe des Ortes Malko Tarnovo von bulgarischen Grenzwachen erschossen wurde. Diese Ortsangabe weicht von dem bulgarischen Untersuchungsbericht ab. Malko Toarnov liegt etwa 50 km von Rezovo entfernt. Botschafter Wenning schlug eine Beisetzung des Toten in Bulgarien vor. Die Angehörigen sollten vom Rat des Bezirks Karl-Marx-Stadt über den Todesfall informiert werden.
Die Hauptsachbearbeiterin in der Abteilung Konsularische Beziehungen des DDR-Außenministeriums (MfAA) Ursula Gott fragte am Vormittag des 9. August 1974 sogleich bei der für die „Sicherung des Reise- und Touristenverkehrs“ (SRT) zuständigen MfS-Abteilung an, „was soll als Todesursache angegeben werden“, es sei doch eine einheitliche Sprachregelung erforderlich. Umgehend meldete sich telefonisch der zuständige MfS-Offizier Werner Ullmann und erklärte, dem Rat des Bezirks Karl-Marx-Stadt sei mitzuteilen, dass Poser bei dem Versuch, die DDR ungesetzlich über die VR Bulgarien zu verlassen, tödlich verletzt wurde. Die Sterbeurkunde werde im Standesamt I Berlin ausgestellt, sie „enthält keine Todesursache“. Bei der Beerdigung solle wie in ähnlichen Fällen in Bulgarien verfahren werden, nämlich „keine Zustimmung der Angehörigen einholen“. In Bulgarien würde „in solchen Fällen wegen der Temperaturen eine Beisetzung abgeordnet“. MfAA-Hauptabteilungsleiter August Klobes schrieb in diesem Sinne noch am 9. August 1974 der Abteilung Inneres im Rat des Bezirks Karl-Marx-Stadt: „Aufgrund der extrem hohen Temperaturen bzw. besonderen Bedingungen und gesetzlichen Bestimmungen in der VRB muß damit gerechnet werden, daß von den zuständigen bulgarischen Organen sofortige Beisetzung der Leiche Reinhard Posers angeordnet wird.” Es sei keine Einäscherung in Bulgarien und Urnenüberführung möglich. Der bulgarische Untersuchungsbericht vom 10. August 1974 hält fest, die DDR-Botschaft habe sich nach Rücksprache mit den Berliner Behörden damit einverstanden erklärt, dass die Leiche des „liquidierten Grenzverletzers“ in Bulgarien vergraben wird.
Am 29. Oktober 1974 übergab der Leiter der Rechtsabteilung der westdeutschen Ständigen Vertretung in Ost-Berlin dem DDR-Außenministerium eine Gesprächsnotiz, aus der hervorgeht, dass sich die Mutter und die Schwester Posers darüber beklagt hatten, dass ihnen trotz aller Bemühungen keine Auskunft über die Todesumstände Posers erteilt wurde. Eine entsprechende Beschwerde richtete Waltraud Poser auch an den Staatsrat der DDR, ohne eine Antwort zu erhalten. Ihr wurde lediglich mitgeteilt, die in der DDR wohnenden Angehörigen seien benachrichtigt, sie möge sich mit ihrem Auskunftsersuchen an diese wenden. Zu diesem Zeitpunkt war in Bulgarien Reinhard Posers Leichnam angeblich auf Anweisung des Bürgermeisters der nächstgelegenen Ortschaft längst beigesetzt worden, „ohne jegliche Kennzeichnung der Grabstätte“. Das missfiel sogar dem Leiter der MfS-Abteilung SRT Oberstleutnant Peter Pfütze. Er bat das DDR-Außenministerium darum, über DDR-Konsul Günter Nietner in Sofia „Einfluß geltend zu machen“, dass Reinhard Poser und der einen Monat später am 3. September 1974 ebenfalls an der bulgarischen Grenze erschossene Eberhard Melichar entweder in Sofia oder auf einem Bezirksfriedhof bestattet werden, damit die Angehörigen die Grabstätten besuchen können. Oberstleutnant Pfütze forderte das MfAA auf, „Weisung an unseren Konsul bis spätestens 5. November zu geben“, er selbst wolle dann nach Bulgarien reisen und „mit unserem Konsul in dieser Sache sprechen“. Die Kosten der Grabstätten müsse das Außenministerium tragen.
Dieser Intervention des MfS-Mannes war jedoch zunächst kein Erfolg beschieden. Der bulgarische Militärstaatsanwalt Dimitar Kapitanov lehnte am 12. November 1974 die Bitte von DDR-Konsul Günter Nietner, künftig die Grabstätten solcher DDR-Bürger auf öffentliche Friedhöfe zu verlegen, mit der Bemerkung ab, „daß es unzumutbar ist, unmittelbar neben friedlichen Bürgern Verbrecher zu beerdigen“. Eine erneute Initiative von DDR-Botschafter Wenning brachte schließlich doch eine Einigung. Wenning berichtete MfAA-Abteilungsleiter August Klobes am 25. Februar 1975 unter Bezugnahme auf die Todesfälle Melichar und Poser, seine Verhandlungen mit dem bulgarischen stellvertretenden Generalstaatsanwalt Watschkov und Miltärstaatsanwalt Kapitanov hätten am Vortag zu der Übereinkunft geführt, dass bei Todesfällen dieser Art eine sofortige Information der Botschaft erfolgt und ein Botschaftsvertreter zusammen mit dem Untersuchungsrichter und dem Militärstaatsanwalt an der Untersuchung des Vorfalls beteiligt wird. „Die Grenzorgane unternehmen künftig keinerlei Maßnahmen in diesen Fällen. Nach Abschluß der Untersuchungen kann entsprechend dem Wunsch der Vertretung und unter Beachtung der hygienischen Bestimmungen der Leichnam entweder überführt, oder auf einem öffentlichen Friedhof beigesetzt werden.” Wenninger bat bei der Unterredung auch um die Überführung der Leichname von Poser und Melichar aus dem Grenzgebiet auf einen öffentlichen Friedhof, „da wir an einem Besuch des Grabes im Grenzgebiet nicht interessiert sind“. Diesem Anliegen wurde jedoch nicht entsprochen. Die bulgarische Seite verwies darauf, dass Melichars Grab an der Grenze von Angehörigen besucht werden könne, die Stelle, an der Posers Leichnam vergaben wurde, sei noch von einer Schneedecke bedeckt. Waltraud Poser wusste im Jahr 2008 immer noch nicht, wo sich das Grab ihres Sohnes befand. Sie konnte es bis zu ihrem Tod nicht besuchen.
Reinhard Poser
Reinhard Poser versuchte am 8. August 1974 nahe der südbulgarischen Ortschaft Rezovo über die Grenze in die Türkei zu flüchten. Er wurde entdeckt und von bulgarischen Grenzsoldaten erschossen.
Biografie von Reinhard Poser, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/464-reinhard-poser/, Letzter Zugriff: 21.11.2024