Annerose Gerda Bärbel Lippmann, genannt Rosi, wurde am 18. Februar 1944 in Crimmitschau geboren. Nur wenige Monate nach ihrer Geburt fielen im Zweiten Weltkrieg Bomben auf die Industriestadt im sächsischen Landkreis Zwickau. Anneroses Eltern Hildegard Lippmann, geborene Ott, und der Abteilungsleiter Arno Lippmann gehörten der evangelisch-lutherischen Konfession an und waren seit September 1936 verheiratet. Über die Kindheit von Annerose Lippmann in den Nachkriegsjahren sind kaum Informationen bekannt.
Sie wuchs gemeinsam mit einem Bruder und einer Schwester auf, zu der sie auch im Erwachsenenalter ein enges Verhältnis pflegte. Gemeinsam besuchten die beiden jungen Frauen gerne Tanzveranstaltungen in Bars und anderen gastronomischen Einrichtungen. Mit Mitte Zwanzig wohnte Annerose Lippmann in Ost-Berlin, wo sie als Serviererin, zuletzt in der HOG Lindencorso in der Prachtstraße Unter den Linden arbeitete. 1967 trat sie in die SED ein.
Doch Annerose Lippmann führte noch ein zweites Leben unter dem Decknamen „Ines Berghoff“. Im Jahr 1966 wurde sie von der Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit in Saalfeld angeworben. So soll ihr Vermieter ein hauptamtlicher Mitarbeiter bei der Staatssicherheit gewesen sein, welcher sie anheuerte, damit sie während ihres Jobs als Kellnerin an der Bar Gespräche belauschte. Ab 1967 wurde sie hauptamtlich von der Abteilung XXI des Ministeriums für Staatssicherheit als IMV eingesetzt. Als „Inoffizielle Mitarbeiterin, die unmittelbar an der Bearbeitung und Entlarvung im Verdacht der Feindtätigkeit stehenden Personen mitarbeitet“, so die Definition des Ministeriums für Staatssicherheit für diese Kategorie der geheimen Mitarbeiter, sollte sie bei der Bekämpfung von vermeintlichen politischen Feinden innerhalb der DDR mithelfen. Wie aus den Unterlagen der Staatssicherheit hervorgeht, erwarb Annerose eine Vielzahl an geheim zu haltenden Informationen und Wissen, welches sie gegen ihren zuständigen Führungsoffizier hätte verwenden können. Die Tätigkeit als IMV und ihre Funktion als Geheimnisträgerin der DDR sollten für sie verheerende Konsequenzen mit sich bringen.
An einem Abend, an dem Annerose und ihre Schwester gemeinsam eine Tanzveranstaltung besuchten, lernte ihre Schwester ihren zukünftigen Ehemann, einen jugoslawischen Gastarbeiter kennen, der in Westberlin tätig war. Die beiden verliebten sich rasch und stellten gleichzeitig mit dem Antrag auf Eheschließung einen Übersiedlungsantrag nach Westberlin. Doch das verliebte Paar wollte die Entscheidung des Staates nicht abwarten: Gemeinsam mit anderen jugoslawischen Gastarbeitern organisierte der Verlobte die Ausschleusung von Annerose Lippmanns Schwester nach Westdeutschland am 13. März 1973. Nach Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit soll der ungesetzliche Grenzübertritt der Schwester bereits seit Beginn des Jahres 1973 geplant worden sein. Im Zusammenhang mit den Vorbereitungen wurden Annerose Lippmann, ihre Schwester und eine weitere Freundin geheimpolizeilich beobachtet, da vermutet wurde, dass Annerose und die nicht namentlich bekannte Freundin detailliertes Wissen über den Ablauf der Schleusung gehabt hätten. Ebenfalls wurden ihre Telefonate und Gespräche abgehört. Das Ministerium für Staatssicherheit stellte im Zusammenhang der Überprüfung der „Ines Berghoff“ mehrere Straftaten fest.
Begründet wurde dieser Verdacht durch vermehrte Indizien für angeblich auffälliges Verhalten, die Annerose der Mitwissenschaft über das Fluchtvorhaben ihrer Schwester bezichtigten. So sei diese kurz vor ihrer Flucht in Annerose Lippmanns Wohnung gewesen und habe einen ihren Sozialversicherungsausweis und einen Krankenschein bei ihr hinterlegt, um eventuellen Nachforschungen des Betriebes vorzubeugen. Am 19. März 1973 unterrichtete Annerose Lippmann die Arbeitsstätte ihrer Schwester, den Volkseigenen Betrieb (VEB) Reglerwerke Teltow, über den Verbleib ihrer Schwester und versprach, SV-Ausweis und Krankenschein nachzureichen. In den Unterlagen des MfS ist nachzulesen, dass Lippmann ihrem damaligen Freund offenbart hätte, dass sie im Februar 1973 mehrere Stunden in der Staatsbibliothek gesessen und dort Gesetze studiert hätte, um zu recherchieren, ob es ihrer Schwester nach ihrer Ausschleusung nach Westberlin möglich sei, ungehindert nach Jugoslawien reisen zu können. Auch ein Telefonat mit ihrer Schwester vom 20. September 1973 wurde gegen Annerose Lippmann verwendet: Ihre Schwester stellte an sie die Forderung, dass sie keiner Person verraten sollte, wie sie nach Westberlin gelangt sei. Nachdem Lippmanns Mutter das erste Mal befragt worden war, warnte Annerose an der Schleusung beteiligte Gastarbeiter.
Das Ministerium für Staatssicherheit stellte im Zusammenhang der Überprüfung der „Ines Berghoff“ mehrere Straftaten fest, welche zu einer Verurteilung führten. Ihr wurden die Paragrafen §162 (Bestrafung von Verbrechen zum Nachteil sozialistischen Eigentums), § 165 (Vertrauensmissbrauch) und § 181 (Bestrafung zum Nachteil persönlichen oder privaten Eigentums) des Strafgesetzbuches der DDR zu Lasten gelegt. Doch die Staatssicherheit verfolgte mit der Verurteilung noch einen perfideren Plan: So sollte zum einen durch die Inhaftierung von Annerose Lippmann die Ausschleusung der Schwester detailliert bewiesen werden. Zum anderen sollten Probleme, die ihre Zusammenarbeit als IMV speziell mit ihrem Führungsoffizier des Ministeriums für Staatssicherheit betrafen, geklärt werden. Nach dem Ende ihrer Haftstrafe wurde durch die Staatssicherheit jedoch resigniert resümiert, dass die Aufgaben durch die HA IX/5 nicht realisiert werden konnten und die Observierung von Annerose Lippmann nach der Haftentlassung fortgesetzt werden müsse. 1974 wurde Annerose Lippmann aus der SED ausgeschlossen.
Ab dem 30. Juli 1975 verbrachte Annerose Lippmann ihre Haftstrafe in der Sonderhaftanstalt Bautzen II, die einen Hochsicherheitstrakt für bis zu 200 Sondergefangene, wie beispielsweise Regimekritiker, Gefangene aus der Bundesrepublik Deutschland oder Spioninnen enthielt. Zum Haftort vor Bautzen II liegen keine Informationen vor. Während ihrer Haftzeit freundete sich Annerose Lippmann mit Christa Gross an, die Annerose als sympathisch, aber auch resolut beschreibt. Die beiden arbeiteten gemeinsamen in der warmen Küche und verstanden sich gut. Annerose machte kein Geheimnis aus ihrer Vergangenheit bei der Staatssicherheit: Sie habe damals eingewilligt, da es für sie harmlos geklungen habe. Schnell sei es ihr jedoch zu viel geworden. Aufgrund dieser Aussagen wurde Annerose als ehrlich eingeschätzt, sie sei jedoch auch bestimmend gewesen und habe einen starken Durchsetzungswillen besessen, welcher sich auch in ihrem unbedingten Wunsch, die DDR zu verlassen, um zu ihrer Schwester zu kommen, zeigte. Noch in Bautzen II kündigte sie an, dass sie die DDR verlassen würde und wenn sie nicht ausreisen dürfe, auch über die Ostsee fliehen würde.
Annerose Lippmann stellte insgesamt fünf Anträge auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Da ihre Anträge aufgrund ihrer Funktion als Geheimnisträgerin als rechtswidrig eingestuft wurden, erfolgte wiederholt die Ablehnung. In Akten des Ministeriums für Staatssicherheit finden sich Vermerke, die betonen, dass die Ausreise von Annerose Lippmann in die Bundesrepublik dringend verhindert werden müsse. Bereits während ihrer Haftzeit wurden Bekannte für Lippmann beim Rechtsanwalt Dr. Vogel vorstellig. Nach ihrer Entlassung vertraute sie sich ihm an und berichtete von ihrer Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit. Daraufhin riet ihr Dr. Vogel mit ihrer ehemaligen Dienststelle in Verbindung zu treten und Kontakt zu ihrem ehemaligen Führungsoffizier aufzunehmen, vermutlich um ihren persönlichen Konflikt klären zu können und um Hilfe erhalten zu können. Darüber hinaus suchte Lippmann Kontakt zu Westberliner Bekannten und bat um Kontakte zu den jugoslawischen Gastarbeitern, die bereits bei der Flucht ihrer Schwester geholfen hatten. Auch die Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin kontaktierte Annerose Lippmann. Doch all diese Initiativen und Bemühungen blieben hoffnungslos, da das SED-Regime um jeden Preis verhindern wollte, dass Annerose Lippmann das Land verlassen konnte.
Am Abend des 24. Mai 1977 lernte sie in der Tanzbar des Cafe Moskau in der Karl-Marx-Allee in Berlin Werner Dierßen kennen. Dieser war in seinem Leben aufgrund von Kreditkartenbetrug und Diebstahl öfter mit dem Gesetz in Konflikt geraten und plante einen Fluchtversuch. Die beiden führten ein intensives Gespräch, in dem Dierßen Lippmann seine Absichten zur Flucht in der westlichen Ostsee offenbarte. Er erzählte ihr auch, dass er bereits Vorbereitungen getroffen habe. Dazu zählte, dass Dierßen seiner Familie ein Scheckbuch entwendet hatte und so durch das Ausstellen und Einlösen gefälschter Schecks an ungefähr 5000 bis 6000 Mark gelangen konnte. Von diesem Geld hatte er bereits am 19. Mai 1977 ein Ein-Mann-Faltboot erworben, welches er am 25. Mai 1977, gleich an dem darauffolgenden Tag des Kennenlernens der Annerose Lippmann, in einem Gewässer am Berliner Stadtrand in der Nähe der Grünheide auf Funktions- und Tragefähigkeit prüfte.
Noch am selben Abend besuchte Werner Annerose in ihrer Wohnung in Berlin-Friedrichshain. Er übernachtete bei ihr und die beiden führten weitere Absprachen bezüglich ihres Fluchtvorhabens, welches sie unverzüglich am nächsten Tag durchsetzen wollten. Die kurzen zeitlichen Abstände zwischen dem Kennenlernen, den Fluchtvorbereitungen und dem Fluchtversuch legen nahe, dass bei beiden der Entschluss, die DDR so bald wie möglich verlassen zu wollen, bereits vor ihrem Kennenlernen feststand.
Am 26. Mai 1977 gingen die beiden gegen 13 Uhr aus Lippmanns Wohnung. Bevor sie Berlin verließen, verstaute Werner Dierßen sein Gepäck, bestehend aus einem Koffer und einem Beutel, im Schließfach Nummer 80 des Bahnhofs Berlin-Friedrichsstraße. Wie Annerose Lippmann und Werner Dierßen an die Ostseeküste gelangten, kann nicht mehr rekonstruiert werden. Bekannt ist jedoch, dass die beiden am 26. Mai 1977 nach Einbruch der Dunkelheit bei widrigem Wetter von der Westküste der Insel Poel Richtung Lübecker Bucht ablandeten. Die unruhige See führte dazu, dass sie, vermutlich noch in Strandnähe, ein erstes Mal kenterten und ihre Ausweisdokumente verloren. Dieser Umstand zwang Lippmann und Dierßen, wahrscheinlich aus Furcht vor der drohenden Strafverfolgung und weiteren Repressionen, sollten sie entdeckt werden, ihr Vorhaben trotz gefährlicher Umstände fortzusetzen.
Vorerst wurde von den Behörden der DDR angenommen, dass zumindest Annerose Lippmann die Fluchtgelungen sei. So verkündete die Kreisdienststelle (KD) Wismar des Ministeriums für Staatssicherheit nach einer Meldung der Deutschen Presse-Agentur (dpa), dass ein unbekanntes Schiff eine lebende Frau aufgenommen habe. In einer weiteren Meldung wurde der Fund einer männlichen Wasserleiche durch ein weiteres Schiff der Bundesrepublik gemeldet.
Doch am 5. Juni 1977 wurden Personaldokumente und persönliche Gegenstände der Annerose Lippmann in Timmendorf auf der Insel Poel gefunden. Zwölf Tage später, am 17. Juni 1977, strandete in Brook (Kreis Grevesmühlen) das Faltboot. Auch der Gepäckaufbewahrungsschlüssel von Werner Dierßens Schließfach wurde angespült und ihm zugeordnet. Auf Grundlage dieser Funde stellten die Mitarbeiter des Grenzschutzes Berechnungen an, die ergaben, dass Lippmann und Dierßen in der Nacht vom 26. auf den 27. Mai 1977 noch in den Hoheitsgewässern der DDR, ausgangs der Wismarer Bucht, gekentert und dabei ertrunken sind.
Am 21. Juli 1977 wurde gegen 16:30 Uhr etwa eine Seemeile querab vom Darßer Ort eine weibliche Wasserleiche durch ein Grenzsicherungsboot der DDR geborgen und nach Rostock-Warnemünde gebracht. Am 22. Juli 1977 erfolgte die Sektion im Institut für Gerichtliche Medizin Rostock, jedoch konnte die Leiche aufgrund der fortgeschrittenen Veränderung erst fünf Monate später als Annerose Lippmann identifiziert werden. Sie wurde auf dem Neuen Friedhof in Rostock beigesetzt. Ihrer Mutter wurde verwehrt, den Leichnam zu sehen – Hildegard Lippmann sollte ihre Tochter anhand der am Strand gefundenen Schmuckstücke identifizieren. Annerose Lippmanns Schwester soll zudem einen anonymen Brief erhalten haben, in dem sich Zeugnisse und ein Familienfoto befanden. So blieb die Hoffnung der Familie lange bestehen, dass Annerose Lippmann die Flucht überlebt und sich ins Ausland abgesetzt haben könnte.