Rudi (Rudolf Ernst) Nettbohl, geboren am 2. März 1956, wuchs im thüringischen Häselrieth, Kreis Hildburghausen, in einer staatstreuen Familie auf. Er hatte zwei Schwestern. Seine Mutter, Herta Nettbohl, geb. Seibel (Jg. 1924) arbeitete als Sekretärin und Finanzinstrukteurin im Kreisvorstand der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaftsgesellschaft (DSF), sein Vater Rudolf (Jg. 1922), ein langjähriges SED-Mitglied, war seit 1950 bei der Kriminalpolizei beschäftigt und – nachdem er das Dienstverhältnis aus gesundheitlichen Gründen quittieren musste – im Kreisbauamt Hildburghausen. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn war konfliktträchtig. Rudi Nettbohl war politisch desinteressiert und auch beruflich wenig ehrgeizig. Er hatte nach Beendigung der 10. Klasse zunächst den Beruf eines Landmaschinenschlossers erlernt und war dann als Traktorist und Schlosser bei der LPG Wallrabs in Hildburghausen beschäftigt. Danach wechselte er als Kraftfahrer zur örtlichen Filiale des Getränkekombinats Meiningen. Als deren Auslieferungsfahrer erhielt er auch einen Passierschein für das Sperrgebiet von zwei Grenzkreisen im Bezirk Suhl.
Ein Mitschüler erinnert sich, dass er mit Rudi Nettbohl schon in der 8. oder 9. Klasse über Fluchtmöglichkeiten gesprochen hatte. Rudi habe davon geträumt, einmal als Profifußballer in der Bundesliga zu spielen. Doch er sei nur ein guter Verteidiger in der Dorfmannschaft gewesen. Dabei handelte es sich um die Fußballmannschaft der Betriebssportgemeinschaft, BSG Motor ESKA Häselrieth. Das Kürzel ESKA stand für Erzgebirgische Schraubenwerke Karl-Marx-Stadt. Mannschaftskameraden beschrieben Rudi Nettbohl als durchschnittlichen Spieler, der sich regelmäßig am Training beteiligte. „Er war kein Wortführer und verhielt sich beim Training, im Spiel und in gemütlicher Runde nach dem Spiel ruhig und zurückhaltend.“ Mit seinen Freunden hörte Rudi Nettbohl Westradio, insbesondere die Sendung von Frank Elstner bei Radio Luxemburg und den Bayerischen Rundfunk. Aus einer kurzeitigen Beziehung des damals 19-jährigen ging ein Kind hervor, für das er seit Herbst 1976 unterhaltspflichtig war. Rudi Nettbohl sei in der Freizeit viel mit seinem Motorrad unterwegs gewesen, einer alten MZ-250 aus den 50er Jahren, die ihm der Onkel seiner Freundin Astrid geschenkt hatte. Als sein Vater im Mai 1977 nach schwerer Krankheit starb, kümmerte er sich um seine trauernde Mutter und schlug ihr zur Erholung eine gemeinsame Urlaubsreise nach Bulgarien vor: „Mutti, das wäre eine Idee auch für uns, mal nach Bulgarien zu fahren. Wir brauchen Abwechslung, nachdem der Vati tot ist.“ Doch dazu fühlte sie sich so kurz nach dem Tod ihres Mannes nicht imstande.
Von Bekannten wird Rudi Nettbohl als gelegentlich aufbrausend beschrieben, er habe Ungerechtigkeit nicht ertragen können. So schlug er seinen Schwager am 6. August 1977 krankenhausreif, nachdem dieser seine ältere Schwester beleidigt hatte. Das daraufhin am 15. August 1977 gegen ihn eingeleitete Ermittlungsverfahren der Volkspolizei mag seinen Entschluss bestärkt haben, der DDR den Rücken kehren zu wollen. Einem guten Freund vertraute Rudi Nettbohl damals an: „Du Werner, morgen fahren wir nach Bulgarien. Es kann ja nur besser werden. Du hörst von mir, es kann aber eine Weile dauern“. Dann habe er ihn zum Abschied noch einmal fest umarmt. Aus dem Sportverein kannte er den Handballer Bernd Schaffner, mit dem er sich angefreundet hatte. Mit ihm machte er sich am 17. August 1977 auf den Weg nach Bulgarien. In ihre Visa war als Reiseziel Burgas am Schwarzen Meer eingetragen. Zehn Tage später starben die beiden bei einem Fluchtversuch über die bulgarisch-griechische Grenze.
Das dortige Geschehen ist durch diverse Berichte der DDR-Botschaft in Sofia und aus bulgarischen Unterlagen überliefert. Der II. Botschaftssekretär, DDR-Konsul Kurt Spörl, berichtete an das Außenministerium nach Ost-Berlin, er sei durch den Leiter der Untersuchungsabteilung des bulgarischen Innenministeriums Simow „am 30.08.1977 eingehend über das Geschehnis, welches er mir anhand einer Akte mit Zeichnungen und Fotos erläuterte“, informiert worden. Demnach habe eine Bauersfrau, den Grenzorgane am 24. August gemeldet, dass sich zwei junge Männer „verdächtig im Grenzgebiet bewegten“. Daraufhin wurde Alarm ausgelöst, was die beiden Männer offenbar bemerkt haben, denn sie hielten sich danach ca. drei Tage versteckt. Die Alarmstufe wurde dann wieder aufgehoben, da die zuständigen Stellen an der Mitteilung der Bauersfrau zweifelten. Am 27. August 1977 hätten die beiden Männer einen Grenzzaun bei Slatograd überwunden und sich in Richtung Griechenland bewegt. Durch die Durchtrennung von Signaldrähten wurde Alarm ausgelöst und Grenzsoldaten eilten zur Stelle der Alarmauslösung. Dort entdeckten sie zwei Personen, die auf Warnrufe angeblich nicht reagierten, sondern versuchten auf getrennten Wegen in einen nahegelegenen Wald zu flüchten. „Daraufhin wurde vom Offizier Schießbefehlt gegeben. Kurz vor Erreichung des dichten Waldes, in Richtung Griechenland, erhielten beide tödliche Verletzungen.“ Simow habe um Klärung gebeten, ob eine Überführung der Toten in die DDR erfolgen solle. Es sei für die Angehörigen auch möglich, sie „vor der Überführung oder Beisetzung in Sofia zu sehen“. Simow habe auch nach näheren Angaben zu den beiden Getöteten gefragt.
Am 30. August 1977 telefonierte die MfAA-Sachbearbeiterin Ursula Gott mit dem Leiter der MfS-Untersuchungsabteilung Oberstleutnant Peter Pfütze und erhielt von ihm die Anweisung, „es bei der alten Entscheidung zu belassen, d.h. Beisetzung in Sofia“. Frau Gott informierte darüber am folgenden Tag ihren Chef August Klobes, den Leiter der Hauptabteilung für Konsularwesen und teilte ihm mit: „Gen Spörl ist zu informieren, daß Beisetzung in Sofia erfolgen soll.“ Sie habe mit Konsul Spörl bereits abgesprochen, daß dies in Sofia veranlasst wird „und wir schnellstens Tag der Beisetzung, Friedhof und Grabstelle erfahren.“
Ebenfalls am 30. August 1977 ging in der Hauptabteilung Konsularische Beziehungen ein Telegramm des stellvertretenden Vorsitzenden der Abteilung Inneres aus Hildburghausen Geier ein, der „umgehende Informationen über die Tödliche Verletzung der Bürger Rudolf-Ernst Nettbohl und Bernd Schaffner“ erbat. Diese Angaben würden für die Benachrichtigung und Information der Angehörigen dringend benötigt. Das MfAA antwortete telegrafisch und versprach die briefliche Zusendung der Informationen. Das „Nur für den Dienstgebrauch“ gekennzeichnete Schreiben von Hauptabteilungsleiter Klobes enthielt die Angabe, Rudi Nettbohl und Bernd Schaffner seien „bei der strafbaren Handlung, die DDR ungesetzlich über die VR Bulgarien zu verlassen, bei dem Versuch eines Grenzdurchbruchs nach Griechenland, unter Zerströrung von Anlagen, erschossen“ worden. „Es muß davon ausgegangen werden, daß nach Abschluß der Untersuchung – entsprechend der bulgarischen Gesetzgebung – sofortige Beisetzung in der VRB angeordnet wird bzw. bereits erfolgt ist.“
In Bulgarien wurde unterdessen in einem Waldstück das dort versteckte Motorrad Rudi Nettbohls aufgefunden. Die Bezirksverwaltung Smoljan des bulgarischen Staatssicherheitsdienstes telegrafierte am 20. September 1977 nach Sofia: „Am 27.8.1977 wurden beim Versuch zur Überwindung der bulgarisch-griechischen Grenze die DDR-Bürger liquidiert: Rudolf Ernest Nettbohl, geboren am 2.3.1956 und Bernd Franz Schaffner, geboren am 11.1.1950, die beiden aus Hildburghausen-DDR stammen. Am 16.9.1977 um 11 Uhr wurde in der Gegend ‚Barakov dol‘, 3 km auf dem Weg Nedelino-Zlatograd in einer Schlucht ein verstecktes Motorrad ‚M-250‘ № OD 64-87” gefunden, mit dem die Verletzer in Richtung der Grenze reisten. Auf dem Motorrad wurden Gegenstände gefunden, die im anliegenden Verzeichnis aufgelistet sind. Das Motorrad und die Gegenstände sind in der Bezirksverwaltung DS Smoljan in Verwahrung.“
DDR-Konsul Kurt Spörl sandte dem DDR-Außenministerium am 29. September 1977 ein ausführliches bulgarisches Protokoll über den Grenzzwischenfall und die bulgarischen Sterbeurkunden für Bernd Schaffner und Rudi Nettbohl. Der aus dem Bulgarischen übersetzten Sterbeurkunde Nr. 59 für Rudolf Ernst Nettbohl ist zu entnehmen, dass sie von der „Amtsperson für das Personenstandswesen” Sheljasko Trandafilow Schechow des Volksrates Slatograd Bezirk Smoljan unterzeichnet wurde. Als Anzeigeperson wird Georgi Markow Ichtjarow, 34 Jahre, aus Slatograd benannt. Der Eintritt des Todes sei am 27. August 1977 um 15.40 Uhr erfolgt. „Todesursache: Verletzung durch Feuerwaffe“. Der Totenschein Nr. 73 wurde von dem Gerichtsmediziner Dr. Slatko Nikolew Kolew ausgestellt, er gibt als Todesursache an „„Hämorrhagie acuta ruptura pulmonum et hepatis vulnus sclopetarii thoracis transistorii“. Zwei kurze Passagen zur Todesursache fügte Spörl in Übersetzung bei. Demnach wurde Bernd Schaffner durch Geschosse getötet, die die rechte Lunge durchschlugen und Verletzungen der Arterie im linken Oberschenkel. Durch den starken Blutverlust sei der Tod unmittelbar eingetreten. Rudolf Nettbohl sei durch ein Geschoß getötet worden, das beide Lungen, das Herz und die Leber verletzte. Auch bei ihm sei der Tod durch den starken Blutverlust unmittelbar eingetreten.
Ursula Gott wies das Standesamt I Berlin an, neue Sterbeurkunden für Rudi Nettbohl und Bernd Schaffner auszustellen. In diesen Urkunden ist die lediglich der Todeszeitpunkt aus dem bulgarischen Dokument übernommen worden und als Todesort Slatograd, eine Todesursache ist nicht angegeben. Der Rat des Kreises Hildburghausen händigte am 11. November 1977 nach wiederholten Nachfragen diese Todesurkunden den Eltern aus.
Am 12. November 1977 hielten die Pastorin Ross und Pfarrer Steinert auf Bitte der Familien in Hildburghausen eine Andacht für Rudi Nettbohl und Bernd Schaffner ab. Die Trauerhalle war überfüllt. Schulfreunde und Arbeitskollegen waren gekommen, auch Sportskammeraden der beiden und fünf MfS-Leute. Die Fußballer hatten für einen Kranz gesammelt. Am 30. November 1977 informierte der SED-Funktionär Gerhard Wagner, Sekretär der Betriebsparteiorganisation, das MfS, über „die Pflege des symbolischen Grabs von Nettbohl, Rudolf auf dem Friedhof Hildburghausen-Wallrab“. Am 13. November 1977 habe er dort einen Kranz mit einer Trauerschleife und der Inschrift festgestellt: „Zum ehrenden Gedenken. Unserem jungen Freund“.
Am 28. März 1978 schrieb der Leiter der Abteilung für Innere Angelegenheiten des Kreises Hildburghausen Wagner an das DDR-Außenministerium, der Nachlass der beiden Toten sei trotz Zusage vom 14. November 1977 noch immer nicht eingetroffen. Konsul Kurt Spörl, der für die schleppende Abwicklung des Vorgangs verantwortlich war, teilte am 20. April 1978 schließlich mit, er habe nun den Nachlass und das Motorrad erhalten. Vier Tage später, am 24. April 1978 sprach Hauptreferentin Gott mit Herta Nettbohl, die nach Ost-Berlin gekommen war. Als Frau Gott sagte, ihr Sohn und sein Freund, seien „bei der Begehung einer strafbaren Handlung getötet“ worden, wies Frau Nettbohl laut der Gesprächsaufzeichnung Ursula Gotts darauf hin, sie sei über die Umstände durch den Rat der Stadt informiert worden. Sie habe ihre Arbeitsstelle aufgeben müssen, bei der sie seit 17 Jahren beschäftigt war. „Die Umstände des Ablebens von N. und Sch. seien in Betrieben (?) ausgewertet worden.“ Die Auszahlung der Lebensversicherung ihres Sohnes habe man ihr „mit dem Hinweis verweigert, eine Auszahlung dürfe nicht vorgenommen werden, da ihr Sohn ein Staatsverbrecher“ sei. Der mit ihrer Befragung befasste Staatsanwalt hätte ihr geantwortet, als sie ihn mit diesem Sachverhalt konfrontierte, dass „es in der DDR keine Sippenhaftung gäbe“. Auf die Frage der Mutter nach Exhumierung und der Überführung der Leiche ihres Sohnes, antwortete Frau Gott wieder, dies sei nach bulgarischem Recht erst nach 6 bis 7 Jahren möglich. „Eine Pflege der Grabstelle sei nicht realisierbar. Die Frage von Frau N. nach der Möglichkeit des Besuchs der Grabstelle ihres Sohnes wurde im Prinzip bejaht.“
Zwei Jahre nach Rudi Nettbohls Tod wandte sich seine Mutter, die nach erneuter Eheschließung nun Herta Otto hieß, am 22. August 1979 mit einer Eingabe an SED-Generalsekretär Erich Honecker. Darin beklagte sie sich darüber, dass ihr durch das DDR-Außenministerium bisher keine hinreichenden Auskünfte über den Tod ihres Sohnes erteilt wurden. Darüber hinaus informierte sie den Partei-Chef, sie sei am 30. August 1977 in ihrer Dienststelle, dem Kreissekretariat der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft Hildburghausen, zum Kreissekretär gerufen wurde, der ihr in Gegenwart der „Gen. Geier und Gen. Schleicher von der Abt. Inneres des Rates der Stadt Hildburghausen“ eröffnet habe, ihr Sohn sei in Bulgarien tödlich verunglückt. Nachdem sie in der Woche danach keine Mitteilung über den Hergang des tödlichen Unfalls erhielt, habe sich ihr Schwager bei der Abteilung Inneres beschwert und mit einer Eingabe gedroht. Daraufhin wurde sie noch am selben Tag zum Vorsitzenden des Rates des Kreises Werner Ahsmuß eingeladen, der ihr in Gegenwart ihrer Tochter eröffnete, ihr Sohn sei erschossen worden, „da er Sicherheitsmaßnahmen beschädigt habe. Wo und wie der Hergang gewesen ist, konnte uns nicht gesagt werden, und dazu sei er auch nicht verpflichtet. Gen. Ahsmuß gab hier Beispiele, daß jene Menschen unserer Republik in das soz. Ausland reisen, um von dort den Weg in das kapitalistische Ausland zu suchen.“ Sie habe geantwortet, dies könne nicht auf ihren Sohn zutreffen, der nach dem Tod ihres Mannes vor drei Monaten ihre einzige Stütze gewesen sei und ihr über das schwere Leid hinweggeholfen habe. Ihr Sohn habe als Kraftfahrer des VEB Getränkekombinats Meiningen, Betriebsteil Hildburghausen für zwei Grenzkreise des Bezirks Suhl einen Passierschein besessen und daher nicht eine Reise von 2600 km mit dem Motorrad antreten müssen, um „unsere Republik zu verlassen“. Ihr Sohn habe nie einen solchen Gedanken gehabt. Er habe das Jugendzimmer für die Dorfjugend in Wallrabs mit eingerichtet und sei mit seinem Fußballverein BSG ESKA eng verbunden gewesen. „Ich habe an Gen. Ahsmuß die Frage gerichtet, ob mein Sohn im Besitz einer Waffe gewesen sei und Menschenleben vernichtet habe, darauf mußte Gen. Ahsmuß mir antworten, daß dies nicht der Fall sei.“ Er habe ihr aber dann den Fall des Grenzverletzers Weinhold vorgehalten, dessen Eltern seine Tat auch nicht glauben wollten. Werner Weinhold hatte am 19. Dezember 1975 auf seiner Flucht in die Bundesrepublik zwei NVA-Grenzsoldaten erschossen. Erst auf mehrfaches Drängen sei ihr am 11. November 1977 die am 29. September in Berlin ausgestellte Sterbeurkunde ausgehändigt worden, aus der hervorgehe, dass ihr Sohn am 27. August 1977 um 15.40 Uhr in Slatograd verstorben sei. Sie sei später mit ihrem neuen Ehemann nach Sofia gereist und habe dort die Gräber ihres Sohnes und seines Freundes aufgesucht. „Es war für uns ein erschütternder Anblick, am Hauptweg in der Parz. 17, rings umgeben [von] mit Marmor versehenen Grabstätten, zwei verwilderte Erdhügel vorzufinden. Dies sind die Gräber zweier junger DDR-Bürger.“ Sie habe von der Friedhofsverwaltung erfahren, dass die Beisetzung am 3. September 1977 im Beisein eines Vertreters der DDR-Botschaft und eines Angestellten des gerichtsmedizinischen Instituts Sofia erfolgte. Sie fordere, auch im Namen der Familie Schaffner, die Exhumierung und Überführung der beiden Leichen in die DDR. Ihre Arbeitsstelle sei von der DSF zum 31. Dezember 1977 gekündigt worden. Das Arbeitsgericht habe diese Kündigung nicht akzeptiert und darauf bestanden, dass ein Aufhebungsvertrag geschlossen wurde. Sie habe inzwischen eine neue Arbeitsstelle im VEB Holzindustrie gefunden, die aber mit 560,- Mark um 95,- Mark geringer vergütet werde als ihre Tätigkeit in der Kreisdienststelle der DSF. Sie und ihre beiden Töchter würden weiterhin bei den zuständigen Instanzen versuchen, „in Erfahrung zu bringen, was mit meinem Sohn geschehen ist, und warum ich hierfür bestraft wurde. […] Werter Genosse Honecker, ich bitte Sie höflichst, die von mir dargelegten Umstände überprüfen zu lassen und mir in aller Offenheit die tatsächliche Wahrheit mitzuteilen und mir zu meinem Recht zu verhelfen.“
Das DDR-Außenministerium reagierte auf die vom Büro Honecker übersandte Eingabe erst nach erneuter Ermahnung am 2. Mai 1980. In einem mit allerlei Ausflüchten versehenen Schreiben an den Leiter der Abteilung Inneres des Rates von Hildburghausen wurde nun mitgeteilt: „Wenn Frau Otto eine Exhumierung und Überführung der sterblichen Überreste ihres Sohnes wünscht, so ist dies grundsätzlich möglich.“ Frau Otto müsse dazu einen persönlichen Antrag an das bulgarische Gesundheitsministerium und die bulgarische Generalstaatsanwaltschaft stellen und sich zur Kostenübernahme bereiterklären.
Das Schreiben an den Rat des Kreises Hildburghausen war mit einer internen dreiseitigen Selbstrechtfertigung der Hauptabteilung Konsularische Beziehungen des DDR-Außenministeriums vorbereitet worden. Unter der Überschrift „Fragen aus dem Schreiben der Frau Otto vom 20.08.1979“ werden darin die in Herta Ottos Eingabe an Erich Honecker enthaltenen Vorwürfe abgearbeitet. Das erfolgte in mehreren Punkten wahrheitswidrig. So heißt es z.B., „bei persönl. Vorsprache wurde die Frage der sofortigen Überführung nicht berührt, sondern allgemein auf Bedingungen VRB hingewiesen“. Der Beisetzungstermin sei nach Auskunft der Botschaft der 5. September gewesen. „Nach bisherigen Erfahrungen werden in der VRB solche Gesetzesverletzer als ‚Verbrecher‘ angesehen, deren Andenken nicht bewahrt werden soll.“ Zur bisherigen Praxis heißt es: „Bei Verbrechen mit Todesfolge aufgrund § 213 wurde bisher eine Überführung in die DDR nicht vorgesehen. (keine Rückfrage bei Angehörigen). Abstimmung mit VRB ist insofern erfolgt, als die Beisetzung in der VRB auf einem zentralen Friedhof (z.B. Sofia) vorgenommen wird.“ Im Zusammenhang mit einem vorherigen Fall sei „nachträglich doch eine Exhumierung (innerhalb eines 1/4 Jahres) durch Angehörige erreicht“ worden. Die VRB-Seite habe aber darauf hingewiesen, dass eine weitere Exhumierung erst nach 6 bis 7 Jahren Wartezeit mit Antrag an das Gesundheitsministerium möglich sei. Es gebe außerdem „kein Krematorium“ in Sofia. Unter dem Punkt „Überführung der sterblichen Überreste“ heißt es: „evtl. Frage nach Rückführung Nettbohl/Schaffner nach Beratung mit HA-U [MfS-Hauptabteilung Untersuchung] durch Botschaft an bulg. Seite herantragen“. Die Möglichkeit der Grabpflege solle durch die Botschaft geprüft werden, sie könne dabei gegenüber der Sofioter Stadtverwaltung auf den „Vorgang Kriegsgräberpflege“ Bezug nehmen.
Nach weiteren beharrlichen Bemühungen von Herta und Heinz Otto sowie der Eltern von Bernd Schaffner erfolgte am 30. Januar 1981 die Überführung der sterblichen Überreste ihrer Söhne in die DDR.
Herta Otto erstattete am 22. Juli 1996 bei der Zentralen Ermittlungsgruppe Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) Strafanzeige wegen der Ermordung ihres Sohnes. Die ZERV antwortete am 20. September 1996, in Fällen dieser Art, könne eine Strafverfolgung weder nach bundesdeutschem noch nach DDR-Recht erfolgen. Die bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden hätten, „anders als bei Vorfällen an der damaligen innerdeutschen Grenze einschließlich Berlins“ keine Kompetenz „zur Verfolgung derartiger Gewaltakte an den Grenzen ehemaliger sozialistischer ‚Bruderländer‘ der DDR“. Dies sei auch dann nicht der Fall, „wenn Opfer derartiger Gewaltakte Bürger der DDR waren“.