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Biografisches Handbuch

Rolf Kühnle

geboren am 11. Februar 1940 in Nürnberg | erschossen 23. August 1972 | in der Nähe des bulgarischen Grenzortes Kalotina an der bulgarisch-jugoslawischen Grenze
BildunterschriftRolf Kühnle
BildquelleArchiv Stefan Appelius
Quelle: Archiv Stefan Appelius
Rolf Kühnle wollte mit seiner Verlobten Wera Sandner aus Cottbus über die bulgarische Grenze nach Jugoslawien flüchten, um von dort aus nach Westdeutschland zu gelangen. Bulgarische Grenzsoldaten entdeckten das Paar und eröffneten das Feuer auf die beiden Flüchtlinge.

Rolf Kühnle, Taufname Rudolf, kam am 11. Februar 1940 als Sohn von Elisabeth, geb. Fürst, und Gerhard Kühnle in Nürnberg zur Welt. Die junge Mutter, eine Nürnberger Kaufmannstochter, hatte im Jahr zuvor im Alter von 19 Jahren den 13 Jahre älteren Diplom-Ingenieur Gerhard Kühnle (1907 – 1964) geheiratet, der aus einer Stuttgarter Pfarrersfamilie stammte. Er gehörte seit 1930 der NSDAP an und wird wohl von seiner jungen Ehefrau ein Verhalten im Sinne des Frauenbildes der Hitler-Partei erwartet haben. Doch dem entsprach die selbstbewusste Lisa nicht. Frühe Fotografien zeigen sie in modischer Kleidung und am Steuer eines Mercedes-Cabrios. Ihre wohlhabenden Eltern betrieben in Nürnberg ein Modegeschäft.

Zwischen Lisa und Gerhard Kühnle, kam es häufiger zu Unstimmigkeiten und wiederholten Trennungen von Tisch und Bett. Rolf Kühnle kam dann zeitweise bei seinen Großeltern unter und als sie gestorben waren als Zwölfjähriger in das Städtische Oberschülerheim Dinkelsbühl. In den 1950er Jahren wohnte er mit seinen Eltern in Mönchen-Gladbach, da sein Vater dort Arbeit gefunden hatte. Fotografien aus dieser Zeit zeigen Rolf Kühnle als fröhlichen Jungen. Er absolvierte eine Optikerlehre und wurde danach als Wehrpflichtiger zur Bundeswehr eingezogen. Seinen Wehrdienst leistete er vom Oktober 1961 bis September 1963 im Gebirgsjägerbataillon 232 in Berchtesgaden als Sanitäter ab. Danach arbeitete er zeitweise als Vertreter für die American Optical Company Deutschland und besuchte in München die „Höheren Fachschule für Augenoptik“, die er 1971 als Augenoptikermeister abschloss. Durch eine Anstellung bei dem Nürnberger Optiker Günter Räder verfügte er dann über ein gutes Einkommen, das es ihm ermöglichte, mit seinem Škoda Reisen durch das In- und Ausland zu unternehmen. Dabei favorisierte er wegen der guten Umtauschkurse und günstigen Hotelangebote osteuropäische Länder.

Als leidenschaftlicher Hobbyfotograf besuchte Rolf Kühnle Sportveranstaltungen und Autorennen. Auf den Rückseiten seiner Aufnahmen vom Nürburgring notierte er akribisch Startnummern, Automarken und die Namen der damaligen Formel-1-Heroen. Er selbst spielte Eishockey und war ein begeisterter Skifahrer. Eine damals geschlossene Ehe verlief unglücklich und stand vor der Scheidung, als er während eines Kurzurlaubs in der Tschechoslowakei am 17. Mai 1970 Wera Sandner aus Cottbus kennenlernte. Er war gerade mit seinem Freund Heinz Wyremba in Prag eingetroffen, als sich in einem Café zwei DDR-Bürgerinnen zu ihnen an den Tisch setzten. Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Heinz Wyremba erinnerte sich später, dass er seinen Freund danach drei Tage und drei Nächte nicht mehr gesehen hat. In der folgenden Zeit trafen sich Wera Sandner und Rolf Kühnle immer wieder in der Tschechoslowakei und in Ost-Berlin. Seinem Freund Wyremba offenbarte Kühnle, nachdem er den Jahreswechsel 1971/72 mit Wera Sandner im Prager Hotel „Ametyst“ gefeiert und sich mit ihr verlobt hatte: „Ich hol sie raus“.

Auf die Rückseiten von zwei Fotografien mit Wera Sandner vor der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz schrieb er für sie ein Gedicht und eine Liebeserklärung:

„In dieser Welt, wo jeder an sich selber denkt
und selten nur sein Herz verschenkt
und seiner Wege geht
In dieser Welt, wo Freunde morgen Feinde sind
Macht der Haß die Menschen blind
Und keiner sich versteht.
In dieser Welt, wo Haß und Neid regieren,
wo ohne Sinn die Menschen Kriege führen
und wo die Angst in unseren Herzen schlägt
da sehen wir noch einen Weg!
In dieser Welt, da wollen wir Freund sein,
weil das nur ganz allein
auf dieser Erde zählt.
In dieser Welt, die uns gefangen hält,
bau’n wir aus Liebe unsre eigne Welt!
In dieser Welt, auf der wir leben,
kann ich Dir nur meine Liebe geben!

Du bist die:
1. hübscheste
2. zärtlichste
3. netteste
4. süßeste
5. ‚frechste‘
Und last not least
6. allerliebste
Maus, die mir je begegnet ist.“

Dem DDR-Staatssicherheitsdienst war die Liebesbeziehung zwischen Wera Sandner und Rolf Kühnle früh durch einen Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) mit Decknamen „Bernd“ zu Ohren gekommen. Der Mann wohnte mit seiner Familie in demselben Haus wie Wera Sandner und verfügte über einen Telefonanschluss. Er gestattete ihr die Entgegennahme von Anrufen ihres westdeutschen Geliebten. IM „Bernd“ meinte bei Wera Sandner „ein direktes Interesse“ an einer Flucht nach Westdeutschland festgestellt zu haben und berichtete das dem Staatssicherheitsdienst. MfS-Unterleutnant Hans Woithe von der für Spionageabwehr zuständigen Abteilung II/3 der MfS-Bezirksverwaltung Cottbus nahm die Berichte zum Anlass, um Wera Sandner am Donnerstag dem 5. August 1971 unter dem Namen Meißner in ihrer Arbeitsstelle anzurufen. Er verabredete sich mit ihr, um sie zu einem „Sachverhalt“ zu befragen. Der MfS-Mann holte Wera Sandner am folgenden Nachmittag in ihrer Wohnung ab und fuhr mit ihr im Dienstwagen vor die Stadt. Dort konfrontierte er sie mit seinen Informationen zu ihrer Beziehung mit der „WD-Person Kühnle“. Unterleutnant Woithe drängte Wera Sandner, sich als Informantin für das MfS zur Verfügung zu stellen. Er lockte sie mit dem Angebot, „daß wir an einer Reise in die CSSR und einem Treffen mit der WD-Person interessiert sind“. Da Wera Sandner ihren Geliebten weiter treffen wollte, blieb ihr kaum eine andere Wahl, als auf dieses Angebot einzugehen. Sie verpflichtete sich am 13. August 1971 schriftlich zur Zusammenarbeit mit dem DDR-Staatssicherheitsdienst.

Am 14. August 1972 trafen sich Rolf Kühnle und Wera Sandner in Burgas an der bulgarischen Schwarzmeerküste. Die 26-Jährige war von Berlin-Schönefeld dorthin geflogen. Sie meldete sich im Hotel mit einem gefälschten westdeutschen Pass unter dem Namen Eveline Monika Barbara Wyremba aus Baden an, den Rolf Kühnle mitgebracht hatte. Am 23. August 1972 verließ das Paar Burgas und fuhr mit Kühnles Škoda in das bulgarisch-jugoslawische Grenzgebiet. Dort versuchten sie in der Dunkelheit gegen 22:30 Uhr bei der Kontrollstelle Kalotina, die bulgarische Grenze nach Jugoslawien zu überqueren. Was dann geschah, wird in den Überlieferungen der bulgarischen Militärstaatsanwaltschaft folgendermaßen dargestellt: Der Grenzsoldat Petkow habe in der Dunkelheit eine Gestalt entdeckt und angerufen. Auf seine Stopp-Rufe und Warnschüsse habe die Person nicht reagiert und sei in ein Waldstück geflüchtet. Daraufhin habe er das Feuer in Richtung des Waldstücks eröffnet. Dann habe sich Petkow der Stelle genähert, an der die Gestalt im Wald verschwunden war und in Richtung des vermuteten Fluchtwegs drei Salven aus seiner Maschinenpistole abgefeuert. Ein zweiter Grenzer, der gemeinsam mit seinem Streifenführer hinzukam, schoss ebenfalls mit seiner MPi mehrere Salven in das Waldstück.

Wenige Momente später traf die Alarmgruppe ein und fand in einem Gebüsch etwa drei Meter voneinander entfernt die Leichen eines Mannes und einer Frau. Die Untersuchungsgruppe der Kreisverwaltung des Innenministeriums habe ab 06:35 Uhr am 24. August 1972 den Tatort untersucht und fotografiert. Die beiden Toten konnten durch ihre Papiere identifiziert werden. Bei der Autopsie der Leichen in der Gerichtsmedizin des Krankenhauses Isul in Sofia wurden an Rolf Kühnles Körper acht Einschüsse und bei Wera Sandner sechs Schussverletzungen festgestellt. Die bulgarische Todesurkunde Nr. 925 für Rolf Kühnle unterzeichnete der Beauftragte für das Personenstandswesen (Standesbeamter) des Volksrates des Stadtbezirks „Wassil Lewski“ in Sofia, Todor Christow Antschew. In dem Dokument wird als Todesursache angegeben: „Schußwunden im Magen. Großer Blutverlust. Beim Versuch, die Grenze illegal zu überqueren, von einer Grenzstreife getötet.“

Die westdeutsche Handelsvertretung ins Sofia erhielt am Nachmittag des 25. August 1972 aus dem bulgarischen Außenministerium die telefonische Mitteilung über den Tod von Reinhard Kühnle und Wera Sandner. Eine Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Sofia wurde erst im Dezember 1973 eröffnet, nachdem der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag in Kraft getreten und die Aufnahme beider deutschen Staaten in die UNO erfolgt war. Nach Überprüfung durch den Vertrauensanwalt der Handelsvertretung wurde das Auswärtige Amt in Bonn am folgenden Vormittag über den Vorfall unterrichtet. Legationsrat Dr. Hans Julius Boldt ersuchte daraufhin die Nürnberger Kriminalpolizei telegrafisch um Amtshilfe bei der Benachrichtigung von nächsten Verwandten und benannte namentlich die Mutter Elisabeth Kühnle. Die Handelsvertretung in Sofia bitte kurzfristig um Mitteilung, ob eine Leichenüberführung nach Nürnberg veranlasst werden solle. Noch am gleichen Tag teilte die Kripo Nürnberg mit, durch Nachbarn von Frau Kühnle sei bekannt geworden, dass sie sich bis zum 29. August zu einem Urlaub im Ausland aufhalte. Ihre dortige Anschrift sei unbekannt. Der frühere Arbeitsgeber von Rolf Kühnle, Optiker Räder, habe sich jedoch bereit erklärt, alle erforderlichen Schritte für die Leichenüberführung von Sofia nach Nürnberg einzuleiten und ein Bestattungsunternehmen zu beauftragen.

In den westdeutschen Medien standen in diesen Tagen die am 26. August 1972 in München eröffneten Olympischen Sommerspiele im Zentrum der Berichterstattung. Über den tödlichen Zwischenfall an der bulgarisch-jugoslawischen Grenze herrschte zunächst Ungewissheit. Noch am 29. August brachte der Berliner Tagesspiegel unter der Überschrift „Flucht nach Jugoslawien fehlgeschlagen“ eine dpa-Meldung, wonach „vor zehn Tagen“ der Fluchtversuch eines DDR-Ehepaares mit drei Kindern an der bulgarischen Grenze gescheitert sei. Meldungen, dass „ein junger Deutscher und ein aus der DDR stammendes Mädchen bei einem Fluchtversuch erschossen“ wurden, „haben sich bisher nicht bestätigt“.

Einen Tag später gab es dann keinen Zweifel mehr. Unter der Überschrift „Deutsches Paar an der bulgarischen Grenze erschossen“ berichtete Die Welt: Die Bundesregierung habe am Mittwochabend das Vorgehen der bulgarischen Grenzorgane verurteilt, die an der bulgarisch-jugoslawischen Grenze ein deutsches Paar bei dem Versuch, die Grenze illegal zu überschreiten, erschossen hatten. „Wie ein Sprecher des Auswärtigen Amtes zuvor bestätigt hatte, ist nach einem Bericht der Handelsmission der Bundesrepublik in Sofia in der Nacht zum 24. August der 32jährige Nürnberger Rudolf Kühnle gemeinsam mit seiner aus Cottbus in der ‚DDR‘ stammenden Braut Vera Sandner (26) von Grenzsoldaten erschossen worden. […] Der Nürnberger hatte nach Angaben seiner Nachbarn und Arbeitskollegen das Mädchen aus der ‚DDR‘ bei einem Urlaubsaufenthalt im Ostblock kennengelernt. In der folgenden Zeit, insbesondere in den letzten Monaten, hatte Rudolf Kühnle jede Gelegenheit wahrgenommen, seine Braut zu sehen. […] Die Mutter des jungen Nürnbergers erlitt am Mittwoch, als sie die Nachricht vom Tod ihres Sohnes erhielt, einen schweren Nervenschock. Das Verhalten der Grenzposten sei in seiner Schwere durch den Sachverhalt nicht gerechtfertigt. Die Bundesregierung erwarte, daß Vorkehrungen getroffen würden, die eine Wiederholung von derartig schweren Zwischenfällen verhinderten, die zu einer ernsthaften Beeinträchtigung der Beziehungen zwischen beiden Ländern führen müßten.“

Die bulgarische Wochenzeitung Anteni reagierte auf die westlichen Medien am 1. September 1972 mit einem Artikel, der unter der Kopfzeile „Eine Augustnacht ohne Morgengrauen“ und mit der Schlagzeile erschienen ist, „Bulgarien ist kein Platz für Abenteuer. Nichtbeachtung der Gesetze der Gastfreundschaft. Eine tragische, doch bezeichnende Geschichte an unserer westlichen Grenze – zwei Opfer der Propaganda“. Als Autoren werden Georgi Raikow und Koljs Petrow genannt. Ihr Artikel enthält konkrete Angaben über den angeblichen Ablauf unmittelbar an der Grenze. Der Posten habe erst nach Warnrufen und Warnschüssen in Richtung der vermuteten „Grenzverletzer“ geschossen. „Die Frau trug eine rote Bluse und dunkelblaue Hose.“ Der Mann sei durch seine helle Sportjacke dem Posten in der Dunkelheit aufgefallen. Die Grenzstreife habe vorschriftsmäßig gehandelt. „Unantastbar und heilig sind die Grenzen unserer Heimat.“ Der Zwischenfall sei „tragisch und bezeichnend. Wir berichten davon, damit es keine Illusionen für anderen ‚Touristen‘ gibt.“

Am 16. Oktober 1972 wandte sich der Rechtsanwalt und Notar Dr. Gottfried Neubert aus Klingenthal an die DDR-Botschaft in Sofia und stellte im Auftrag der Eltern von Wera Sandner die Frage, wieso eine Überführung der Leiche von Rudolf Kühnle in die Bundesrepublik möglich gemacht wurde, eine Leichenüberführung der Tochter seiner Mandanten in die DDR als „befreundetem Land“ aber nicht. Rechtsanwalt Neubert bat um Mitteilung, ob es nach bulgarischem Recht zulässig sei, eine Beisetzung ohne Zustimmung der Angehörigen anzuordnen. Er bat auch um Mitteilung „in welchem Ort und an welcher Stelle und auf welche Weise die Beisetzung erfolgt ist“. Am 8. November 1972 fand im DDR-Außenministerium eine Beratung zwischen der MfAA-Hauptreferentin Ursula Gott und dem MfS-Offizier Werner Ullmann darüber statt, wie auf das Schreiben von Rechtsanwalt Neubert zu reagieren sei. Man kam aber zu keinem Ergebnis, da keine Formulierung gefunden wurde, die nicht eine “Kettenreaktionen anderer Art auslöst. Es scheint nur möglich, auf diese Frage überhaupt nicht einzugehen”.

Die Überlieferungen des DDR-Außenministeriums enthalten eine aus dem Bulgarischen übersetzte „Anordnung über die Einstellung des Untersuchungsprozesses Nr. 53/1972“ vom 25. September 1972, die von Militärstaatsanwalt Oberst Wladimir Georgiew Momtschilow unterzeichnet ist. Das Dokument enthält die Untersuchungsergebnisse der bulgarischen Militärstaatsanwaltschaft. Demnach entdeckte der Grenzsoldat Petkow gegen 22:30 Uhr einen „Grenzverletzer“ 10 m vom Grenzstreifen entfernt. Er habe „Stehenbleiben“ gerufen und mit dem Maschinengewehr Warnschüsse in die Luft abgegeben. Die Person sei aber in einem Waldstück verschwunden. Daraufhin habe er erneut gerufen und in die Luft geschossen. Wegen der realen Gefahr, „daß der Grenzverletzer durch Sprünge das fremde Territorium erreicht“ habe sich der Soldat der Stelle genähert, an der die Person in den Wald geflüchtet war. Er habe dann dreimal hintereinander in die Richtung geschossen, wo er die Person vermutete. Durch die Schüsse alarmiert, seien der Rangälteste der Streife und ein weiterer Soldat herbeigeilt. Letzterer habe dann nochmals in die gleiche Richtung wie sein Kamerad geschossen. Wenige Momente später traf die Alarmgruppe ein und fand in einem Gebüsch etwa drei Meter voneinander entfernt die Leichen eines Mannes und einer Frau. Die Untersuchungsgruppe der Kreisverwaltung des Innenministeriums habe ab 06:35 Uhr am 24. August 1972 den Tatort untersucht und fotografiert. Die beiden Toten konnten durch ihre Papiere identifiziert werden. Wera Sandner trug außerdem einen gefälschten bundesdeutschen Pass auf den Namen Eveline Monika Barbara Wyremba aus Baden bei sich, den sie auch zur Anmeldung im Hotel vorgelegt hatte. Das Fahrzeug Rolf Kühnles, ein türkisfarbener Škoda, wurde bei der nahgelegenen Landstraße unweit des Grenzübergangs Kalotina entdeckt. Militärstaatsanwalt Momtschilow stellte das Untersuchungsverfahren ein „da im Zusammenhang mit dem Tode Kühnles und Sanders [!] die Grenzsoldaten kein Verbrechen begangen haben“. Die persönlichen Gegenstände seien dem bulgarischen Außenministerium zu übergeben, das sie je nach Eigentum der DDR-Botschaft und der bundesrepublikanischen Handelsvertretung übergeben solle.

Obwohl das DDR-Außenministerium eine deutsche Übersetzung der Todesurkunde von Wera Sandner erhielt, veranlasste dessen Hauptreferentin Gott beim Standesamt I in Berlin für die Eltern die Ausstellung einer Sterbeurkunde, die keine Angaben über die Todesursache enthielt. Doch der Tod des deutsch-deutschen Liebespaares an der bulgarisch-jugoslawischen Grenze führte zu weiteren für die DDR unangenehmen Verwicklungen. DDR-Konsul Peter Krause schrieb am 31. Januar 1973 an August Klobes, die Konsularabteilung des bulgarischen Außenministeriums sei von dem westdeutschen Konsul Dr. Jürgen Oesterhelt um eine Exhumierung und Überführung der Leiche von Wera Sandner in das Grab ihres Verlobten Rolf Kühnle nach Nürnberg gebeten worden. Eine notariell beglaubigte Zustimmung der Eltern Wera Sandners habe der westdeutsche Konsul seinem Schreiben beigefügt.

BildunterschriftAntrag zur Überführung der Leiche Wera Sandners nach Nürnberg
BildquellePAAA
Abb. 22:

DDR-Konsul Peter Krause erklärte gegenüber dem Mitarbeiter des bulgarischen Außenministeriums Markow mündlich, das westdeutsche Anliegen sei „eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR“ und deswegen abzulehnen. Es müsse „im Prinzip als eine Variante der Alleinvertretungsanmaßung angesehen werden“. Ohne Bezugnahme auf die Konsultation mit der DDR-Botschaft solle durch das bulgarische Außenministerium die westdeutsche Vertretung „mit aller Deutlichkeit darauf hingewiesen werden, daß sie für DDR-Bürger nicht zuständig ist“. Außerdem solle mitgeteilt werden, dass eine Exhumierung nach bulgarischem Recht erst nach 6 bis 7 Jahren zulässig sei.

Am 8. März 1973 berichtete die westdeutsche Handelsvertretung dem Auswärtigen Amt, die Konsularabteilung des bulgarischen Außenministeriums habe auf Nachfrage erklärt, eine Zustimmung der Eltern von Wera Sandner zur Leichenüberführung nach Nürnberg sei nicht ausreichend. „Hierzu sei vielmehr eine Genehmigung der DDR-Behörden erforderlich, die seinerzeit die Beerdigung in Bulgarien verlangt hätten. (!)“ Da so gut wie sicher angenommen werden müsse, dass die DDR-Botschaft in Sofia der Überführung widersprochen habe, bestehe für die Handelsvertretung wohl keine weitere Handlungsmöglichkeit.

Am 1. Juli 1976 schickte Krauses Nachfolger Konsul Kurt Spörl aus der DDR-Botschaft in Sofia eine “Niederschrift über eine Vorsprache des DDR-Bürgers Kurt Sandner und Ehefrau” nach Ost-Berlin. Es sei dem Ehepaar wieder um die Überführung nach Nürnberg gegangen. Spörl vertröstete die Eltern mit dem Hinweis, er müsse sich auf bulgarischer Seite über weitere Fragen sachkundig machen. Nach Ost-Berlin schrieb er: „Nach Einsichtnahme in die Unterlagen halte ich es nicht für zweckmäßig, dem gewünschten Vorhaben zu entsprechen.“

Am 14. Juni 1980 wandte sich Lisa Kühnle aus der Krankenanstalt in Elztal-Dallau an den Ministerrat der DDR und erbat erneut die Leichenüberführung Wera Sandners in die Grabstätte ihres Sohnes Rolf Kühnle nach Bad Königshofen. Sie legte ihrem Schreiben ein Bild des Grabsteins bei, auf dem bereits der Name Wera Sandner eingemeißelt ist. Sie befürchte, schrieb sie, dass die sterblichen Überreste der Verlobten ihres Sohnes in Bulgarien „in ein Massengrab kommen“. Sie werde die Kosten der Überführung tragen. „Ich bete jeden Tag darum, dass es geschieht und das ist vielleicht mein letzter Wunsch. Bitte, sehr geehrte Herren, betrachten Sie die Tat der Republik-Flucht nach 8 Jahren als gesühnt, die Beiden waren jung und verliebt und töricht. Es war ja nicht politisch. Bitte, einer armen, gottgläubigen Mutter zuliebe. Mit vorzüglicher Hochachtung! Lisa Kühnle”.

Die Akte Wera Sandner des DDR-Außenministeriums endet mit einem kleinen von Hauptabteilungsleiter August Klobes paraphierten Notizzettel hinter Lisa Kühnles Bittbrief: „Genn. Gott, Bitte Vorgang! nicht antworten“.


Biografie von Rolf Kühnle, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/407-rolf-kuehnle/, Letzter Zugriff: 21.11.2024