Jörg Horst Martelock wurde am 22. Oktober 1969 im thüringischen Vogtland, in der Kreisstadt Greiz, geboren. Seine Mutter beschrieb ihr einziges Kind einerseits als freundlich, aufgeschlossen und unternehmungslustig, andererseits als in sich gekehrt und verschlossen. Mit Problemen wollte er zumeist allein fertig werden. Noch als Jugendlicher war Jörg sehr zierlich und klein, wodurch er sich stets unterlegen fühlte und sich für unscheinbar hielt. Er versuchte, die körperliche Unterlegenheit durch rebellisches Verhalten zu kompensieren: Jörg kämpfte stets um Anerkennung und geriet häufiger in Auseinandersetzungen, auch mit der Polizei. 1987 wurde beispielsweise ein Ermittlungsverfahren gemäß § 177 StGB – dem Missbrauch von Scheck- und Kreditkarten – gegen ihn eingeleitet.
Die 10. Klasse schloss er mit befriedigend ab und ergriff den Beruf des Parkettlegers. Wie auch seine Großmutter arbeitete er im Privatbetrieb seines Onkels. Er lebte weiterhin in der elterlichen Wohnung in Greiz. Seine Freizeit verbrachte Jörg immer draußen, war ständig unterwegs. Seine große Leidenschaft war sein gelbes Moped, auf dem er Kunststücke ausprobierte und welches er sehr geschickt reparieren konnte. Mit einer Clique von ca. 15 Leuten, der auch sein bester Freund Mariano angehörte, machte er im Sommer Urlaub auf dem Zeltplatz in Boltenhagen. Er wollte sein Leben genießen und kümmerte sich eigentlich nicht um Politik. Die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 haben den 19-Jährigen aber scheinbar politisiert: Seiner Mutter gegenüber äußerte er, dass er nicht zur Wahl gehen wolle, um ein Zeichen für Veränderungen zu setzen. Sie überredete ihren Sohn, seine Stimme abzugeben. Am Wahltag strich er dann auf dem Stimmzettel alle Kandidaten durch.
Kurze Zeit zuvor hatte er sich mit Mariano auch über Pläne zur Flucht in den Westen verständigt. Verwandte der Mutter lebten im niedersächsischen Wildeshausen. Jörgs Eltern hatten 1976 und 1978 Anträge auf Ausreise mit dem Verweis auf fehlende Reisemöglichkeiten zu den Verwandten in der Bundesrepublik gestellt. Es ist anzunehmen, dass er sich nach einer erfolgreichen Flucht zunächst dorthin gewandt hätte. Anfang Mai 1989 wollten die beiden Freunde gemeinsam von Boltenhagen aus losschwimmen, um der DDR zu entfliehen. Doch eine Bronchitiserkrankung hinderte Mariano an der Umsetzung dieses Plans – er bat den Freund darum, die Flucht zu verschieben. Scheinbar wollte Jörg aber auch dieses Mal wieder ‚mit dem Kopf durch die Wand‘, wie seine Eltern und Freunde es schon so oft bei ihm erlebt hatten. Er setzte den Plan unbeirrt im Alleingang durch.
Am Montag, den 8. Mai 1989, warf er den Wohnungsschlüssel für die elterliche Wohnung in den Briefkasten und machte sich mit dem Moped auf nach Boltenhagen. Auf dem Küchentisch hatte er einen Abschiedsgruß hinterlassen, der mit den Worten endete „Tschüß, bis bald. Euer Euch liebender Sohn Jörg“. In der kurzen Mitteilung an die Eltern klärte er sie zumindest darüber auf, dass er sich entschieden hätte, „abzuhauen“. Alle weiteren Informationen betrafen seine Habseligkeiten, die er an verschiedene Familienmitglieder verteilte.
Die Eltern vermuteten, dass er über die damalige Tschechoslowakei versuchen würde, zu fliehen. Seine Mutter war der Ansicht, mit seinem Vorhaben wollte Jörg beweisen, dass er erwachsen sei und etwas allein entscheiden könne. Am Dienstagabend hatten die Eltern mit dem Onkel beraten, erst Mittwoch eine Vermisstenanzeige aufzugeben, damit Jörg genügend Vorsprung hätte. Am Morgen des 10. Mai meldeten sie ihren Sohn dann als vermisst und bereits am Abend stand die Kriminalpolizei vor der Tür. Den Zettel von Jörg verschwiegen sie den Ermittlern.
Das Moped von Jörg war bereits am 9. Mai aufgefallen, er hatte es in Boltenhagen hinter Hohlblocksteinen versteckt. Seine Leiche fanden Grenztruppen hingegen erst am 22. Mai 1989 um 23.30 Uhr in Klütz, im Ortsteil Steinbeck, ganz in der Nähe von Boltenhagen. Die Polizei teilte den Eltern mit, dass Jörg vollständig bekleidet war, mit Jeanshose und Motorradjacke. In der Kleidung waren seine eingeschweißten Personaldokumente gefunden worden. Er hatte scheinbar wirklich schwimmend die Flucht angetreten, denn er trug Schwimmflossen an den Füßen. Die Obduktion, die am 25. Mai 1989 in Wismar durchgeführt wurde, erbrachte als vermutliche Todesursache den Tod durch Ertrinken – sicher ließ sich dies aufgrund der längeren Liegezeit der Leiche im Wasser nicht mehr feststellen.
Jörgs Eltern erhielten nach langwierigem Hin und Her mit den Behörden die Urne mit seiner Asche und konnten ihn in Greiz im Familienkreis beisetzen. Der tragische Tod des Sohnes, sechs Monate vor Öffnung der Grenzen der DDR, ließ den Vater nicht mehr zur Ruhe kommen – er nahm sich im Juni 1990 das Leben.