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Biografisches Handbuch

Dieter Sudars

geboren am 11. Juli 1941 in Memel (heute Klaipėda, Litauen) | erschossen am 27. August 1963 an der Grenze der ČSSR zur DDR | Ort des Vorfalls: am Berg Meluzína, sechs Kilometer südlich von Oberwiesental
BildunterschriftDieter Sudars
BildquelleNeues Deutschland v. 25.08.1963
Quelle: Neues Deutschland v. 25.08.1963
Dieter Sudars desertierte aus der NVA und versuchte über die ČSSR in die Bundesrepublik zu gelangen. Bereits bei seiner ersten Begegnung mit zwei tschechoslowakischen Grenzsoldaten zog er seine Dienstwaffe und verletzte einen von ihnen schwer. Einen Tag später starb er selbst in einem Feuergefecht.

Dieter Sudars wurde am 11. Juli 1941 in Memel, dem heutigen Klaipėda in Litauen geboren. Seine Mutter war Weberin, sein Vater Silberschmied. Wahrscheinlich musste die Familie vor den Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs fliehen und gelangte ins thüringische Schmorda bei Pößneck. Hier bekamen die Eltern zwei weitere Kinder. 1953 zog die Familie nach Bad Blankenburg um. Dieter Sudars trat am 5. April 1961 seinen Wehrdienst an. 1963 war der 22-Jährige als Unteroffizier der NVA in Prora auf Rügen stationiert, wo er dem 5. Feldschirmjäger-Bataillon angehörte. Am 17. August 1963 wurde er zur Fahndung ausgeschrieben.

Er hatte seine Einheit verlassen; bei sich trug er einen Urlaubsschein, seinen Dienstausweis und sein Portemonnaie sowie einen Manchestersack mit Handtuch, Wasch- und Frisiersachen, Wechselwäsche, Briefe, Ansichtskarten und Fotografien, einen Taschenatlas, den Versicherungsausweis und seine Fahrerlaubnis sowie eine Pistole Typ „Makarow“ mit 156 Schuss Munition. Am 18. August tauschte er in Potsdam seine Uniform gegen Zivilkleidung aus. Die nächsten Tage hielt Dieter Sudars sich im Verborgenen, während nach ihm vom 25. August an mit einem im Neuen Deutschland veröffentlichten Fahndungsaufruf gesucht wurde. Der Aufruf, der auch eine Fotografie von ihm zeigt, betont, dass der 1,70 Meter große Mann im Sport-Sakko „im Besitz einer Schußwaffe“ sei und bereits „mehrere schwere Straftaten begangen“ habe. Unerwähnt blieb, dass es sich um einen desertierten Angehörigen der NVA handelte.

Erst am 26. August 1963 wurde Sudars von den tschechoslowakischen Grenzsoldaten Otto Mokrý und Jaroslav Soukup bemerkt, als er um 23.25 Uhr eine Eisenbahnbrücke in České Hamry nahe Unterwiesental passierte. Auf die beiden Grenzer wirkte Sudars unsicher; unter einer Lampe stehend, blätterte er in einem Schriftstück. Otto Mokrý sprach ihn an und forderte ihn auf sich auszuweisen. Sudars zeigte seinen Ausweis vor und begann auf Deutsch, mit den Händen gestikulierend, auf Mokrý einzureden. Dieser übergab Sudars an Jaroslav Soukup und ging ans ca. 10 Meter entfernte Telefon des Grenzmeldenetzes, das sich bei der Eisenbahnbrücke befand, um die Personalangaben zu überprüfen. Während Soukup noch versuchte, sich mit dem Deutschen zu verständigen, zog Sudars unvermittelt seine Waffe, feuerte einen Schuss auf Soukup ab und flüchtete über die Eisenbahnbrücke. Der durch einen Bauchschuss schwer getroffene Grenzwächter feuerte zurück, verfehlte jedoch Sudars, der bei der Flucht zwei Pistolenschüsse abgab. Nach diesem Vorfall wurde noch in der Nacht eine Großfahndung mit 206 Männern der Grenzwache, der tschechoslowakischen Volksarmee und des Gefängnisdienstes aus Ostrov eingeleitet, ein Hubschrauber kam ebenfalls zum Einsatz. Durch Postenketten wurde der Raum um die Orte Vejprty und Loučná pod Klínovcem abgesperrt. Später rückten Einheiten der Volksarmee und der Polizei im Einsatzgebiet an.

Als Dieter Sudars am 27. August 1963 um 9.58 Uhr auf die Postenkette bei Srní nahe Stráž nad Ohří traf, sichteten ihn die Grenzwächter Gefreiter Josef Musil und Schütze Ľudevít Korbáš in der Nähe einer Waldarbeitergruppe. Sie forderten Sudars, der barfuß war und sich ruhig verhielt, auf sich auszuweisen, worauf er etwas wie „Zigarette“ sagte, seine Pistole aus der Hose zog und auf die Grenzwächter feuerte. Musil erlitt einen Lungen-Durchschuss und einen Treffer in die linke Hand, Korbáš  trafen zwei Schüsse in die rechte Hand. Auf dem Boden liegend feuerten die Verletzten mit ihren Maschinengewehren auf Sudars, ohne ihn zu treffen. Auch eine weitere von Sudars beschossene Patrouillie konnte ihn nicht stellen, da sie die in der Nähe arbeitenden Waldarbeiter nicht in Gefahr bringen wollte.

Sudars änderte nun seine Fluchtrichtung und kehrte in Richtung DDR-Grenze um. Um 11.15 Uhr bemerkten ihn die Unteroffiziere František Dohnal und Josef Hejda von der 3. Grenzbrigade Karlovy Vary am Berg Meluzína, sechs Kilometer südlich von Oberwiesental. Als sie versuchten, sich ihm zunächst gedeckt anzunähern, sichtete Sudars eine weitere Einsatzkraft, Unteroffizier Oldřich Páleníček, und versteckte sich im hohen Gras. Um seinen Kameraden Páleníček auf Sudars aufmerksam zu machen, rief Unteroffizier Dohnal daraufhin Sudars zu, er solle sich ergeben. Sudars feuerte jedoch sofort auf Páleníček. František Dohnal machte daraufhin augenblicklich von seiner Waffe Gebrauch  und tötete Dieter Sudars durch einen Kopfschuss.

Sudars Leiche wurde nach Vejprty gebracht. Schon am nächsten Tag übergaben die tschechoslowakischen Behörden die eingesargte und bekleidete Leiche sowie die bei Sudars aufgefundenen Gegenstände und Dokumente an einen Vertreter des Grenzbataillons 13 der NVA. Die Leiche wurde nach Bad Blankenburg zur Beerdigung überführt. Die entwendete Dienstpistole mit zwei Magazinen erhielt die NVA am 26. September 1963 zurück.

In der Auswertung der Fahndung stellte die Hauptverwaltung der tschechoslowakischen Grenzwache Mängel in der Arbeit der Grenztruppen fest. Neben der unzureichenden Lebensmittelversorgung der Einsatzkräfte wurde das Verhalten der Grenzwachen Mokrý und Soukup bei der Festnahme Sudars als unverantwortlich gerügt. Dennoch zeichnete das Innenministerium die an der Festnahme Beteiligten Hejda, Dohnal, Páleníček, Musil, Korbáš und Soukup für ihren Einsatz aus. Hejda, Dohnal und Páleníček erhielten eine Verdienstmedaillie; Musil, Korbaš und Soukup das Ehrenabzeichen „Für den Schutz der Staatsgrenze“. Der Fall fand ebenfalls Verwendung für einen Schulungsfilm der Grenzwachen mit dem Titel Akce Sudars.

Der Fluchtversuch forderte ein weiteres Todesopfer. Am 21. Oktober 1963 erlag Jaroslav Soukup trotz mehrerer Operationen seinen Verletzungen. Der 24jährige Familienvater hatte von 1958 bis 1960 seinen Wehrdienst bei den Grenztruppen abgeleistet. Als es zur Begegnung mit Dieter Sudars kam, war er als Gefreiter der Reserve zu einer Übung einberufen worden. In České Hamry wurde ihm nahe des Tatorts ein Gedenkstein gesetzt. Die Auszeichnung mit dem Ehrenabzeichen erfolgte in memoriam.

Im Jahr 2012 veröffentlichen unabhänig voneinander die Autoren Jan Gülzau und Ivo Pejčoch Darstellungen des Falles Dieter Sudars. Jan Gülzau schildert in Grenzopfer an der sächsisch-bayerischen und sächsisch-tschechischen Grenze in den Jahren 1947-1989 den gewaltsamen Grenzdurchbruch, die Verhaftungsversuche und schließlich die Erschießung Sudars anhand der Überlieferungen der NVA und des ZK der SED, wobei er bemerkt, dass aus diesen Quellen die Tatabläufe nicht detailiiert genug rekonstruiert werden können. Ebenfalls weist er auf das noch bestehende Desiderat hin, dass Informationen zur Biografie Sudars und zu seinem Fluchtmotiv bislang noch nicht gewonnen werden konnten.

Ivo Pejčoch schilderte in Vojáci na železné oponě und Přechody přes železnou oponu den Fall Sudars ausschließlich anhand der tschechischen Quellen, die im Archiv der Sicherheitskräfte (Prag, Kanice) aufbewahrt sind. Er nutzte ebenfalls die Personalakte des erschossenen Grenzwächters Jaroslav Soukup zur Wiedergabe dessen Kurzbiographie. Auch Pejčoch bemängelte die Lücken in Sudars‘ Biographie, die zur Herausbildung von Mythen beitrugen. Er weist darauf hin, dass immer noch Versionen im Umlauf sind, die den Fall Sudars als Flucht eines CIA-Agenten aus der ČSSR in die DDR ansehen wollen. Pejčoch nennt keine konkreten Personen, doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass diese Legende heute insbesondere von Veteranenvereinen der ehemaligen Grenztruppen am Leben gehalten wird.


Biografie von Dieter Sudars, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/341-dieter-sudars/, Letzter Zugriff: 21.11.2024