Wer in die Bundesrepublik fliehen wollte und um die tödlichen Gefahren wusste, die an der innerdeutschen Grenze drohten, der mochte einen Moment beim Packen seiner Tasche daran gedacht haben, dass es vielleicht die letzte Reise sein könnte, die er antreten wird. Die Tasche, mit der Detlef Armstark am Dienstag, dem 17. Februar 1987, den Zug von Dresden nach Wittenberge bestieg, enthielt Wechselwäsche, eine Armbanduhr, eine Cremedose, eine graue Lederjacke mit Kamm, Kugelschreiber und Schlüsselbund in der Innentasche, eine Geldbörse und ein Buch – Madrapour von Robert Merle. Der große, kräftige Mann mit dem dunkelblonden, lockigen Haar hatte in Rabenau im Kreis Freital eine Gastwirtschaft betrieben, in der auch seine Mutter arbeitete. Möglicherweise gingen die Geschäfte schlecht, vielleicht fiel es Detlef Armstark auch schwer zu haushalten, jedenfalls war er so hochverschuldet, dass die staatliche Großhandelsgesellschaft sich weigerte, ihn zu beliefern. Weitere Konflikte, die unter anderem dazu beigetragen hatten, dass das MfS den 26-Jährigen in der „Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskartei“ führte, mögen den Entschluss der Familie befördert haben, Rabenau zu verlassen. Doch während seine Eltern nach Mecklenburg zurückkehren wollten – Detlef Armstark war in Wismar zur Welt gekommen –, entschied sich der Sohn zu einem radikaleren Schritt.
Von Wittenberge aus floss die Elbe in mehreren Windungen in die Bundesrepublik. In der Nähe der Stadt konnte man zwar ungehindert das Ufer betreten, doch waren es noch ganze 20 Kilometer, bis die Elbe zum Grenzfluss wurde. Zu weit, um zu schwimmen, vor allem an einem unerwartet kalten Februarabend. Als Detlef Armstark in Wittenberge ankam, war die Temperatur auf 4° C unter dem Gefrierpunkt gesunken, hin und wieder fiel Schnee. Sein Plan war es, sich auf Luftmatratzen liegend flussabwärts treiben zu lassen. Am Ufer der Elbe band er zwei Luftmatratzen mit einer Kunststoffschnur zusammen, auch seine Tasche befestigte er an der Verschnürung.
Dann legte er sich bäuchlings auf die Matratzen und kroch, damit er nicht abrutschte, unter die Schnur. Was ihm vermutlich Halt bieten sollte, wurde alsbald zur tödlichen Falle. Um 3.25 Uhr wurde in Cumlosen eine Frau von Hilferufen, die vom Fluss her kamen, geweckt. Sie bat einen Fähnrich der Grenztruppen, der im selben Haus wohnte, zu helfen. Doch als er am Ufer ankam, war die Elbe wieder ruhig. Die Hilferufe waren verstummt. Eine halbe Stunde später sahen Grenzposten am Grenzübergang Cumlosen für einen kurzen Moment die Luftmatratzen im Wasser treiben, nur konnten sie in der Dunkelheit nicht erkennen, worum es sich eigentlich handelte. Rufe wurden nicht mehr vernommen. Inzwischen hatte die Grenzkompanie Gandow Alarm ausgelöst: Posten suchten das Elbufer ab, Hubschrauber kamen zum Einsatz, doch alle Bemühungen blieben ergebnislos. Erst am Nachmittag entdeckte ein Patrouillenboot der Grenztruppen bei Lenzen die schon weit ins Grenzgebiet abgetriebenen Matratzen. In den frühen Morgenstunden muss das manövrierunfähige Gefährt gekentert sein. Als die Soldaten dieses an Bord holen wollten, fanden sie unter den Matratzen eine Leiche, die in der Verschnürung hing.
Durch den mitgeführten Personalausweis konnte der Tote identifiziert werden. Das MfS ließ den Eltern, denen man die Todesumstände verschwieg, nur mitteilen, ihr Sohn sei „an der Elbe tot aufgefunden“ worden. Die aufgebrachte Mutter vermutete, dass Detlef Armstark von den Grenzsoldaten, die sie als „Schweine“ beschimpfte, erschossen worden sei. In Lützlow, Kreis Prenzlau, fand im März 1987 die Beisetzung statt. Die Tasche mit dem Reisegepäck ihres Sohnes wurde den Eltern per Post zugeschickt.
Der Roman Madrapour von Robert Merle, den Detlef Armstark mitgenommen hatte, erzählt von einer riskanten Reise in ein unbekanntes Land. Die Passagiere einer Chartermaschine verbinden die unterschiedlichsten Erwartungen mit dieser Reise und dem Zielort, doch als sich das Flugzeug als ferngesteuert erweist, wird zweifelhaft, ob Madrapour jemals erreicht wird – vielmehr es geht um Leben und Tod.