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Biografisches Handbuch

Wolfgang Bothe

geboren am 9. Januar 1952 in Magdeburg | gestorben an Herz- und Kreislaufversagen nach Minenverletzung am 11. Mail 1980 | Ort des Vorfalls: 1100 Meter nordostwärts von Veltheim am Fallstein (Sachsen-Anhalt)
BildunterschriftWolfgang Bothe
BildquelleOrtsbürgermeister Olaf Beder
Quelle: Ortsbürgermeister Olaf Beder
Beim Versuch die Grenze bei Veltheim am Fallstein (Sachsen-Anhalt) nach Niedersachsen zu überwinden, löste Wolfgang Bothe am 7. April 1980 eine am Grenzzaun angebrachte Splittermine aus. Seinen Verletzungen erlag er einen Monat später.

Als Wolfgang Bothe am 9. Januar 1952 auf die Welt kam, hatte die Mutter erst ein Jahr zuvor, mit 23 Jahren, eine Stelle als Dienstmagd bei der Familie eines Mühlenbesitzers und Betreibers einer privaten Landwirtschaft in Badersleben angetreten. Wie groß die Abhängigkeit, eingehandelt für freie Kost und Logis, auch im Privaten war, lässt sich daran ermessen, dass die alleinstehende junge Frau ihren Sohn in ein Kinderheim gab. Als sie ihn drei Jahre später auf den Gutshof holte, musste auch er dort bald mitarbeiten. Seine Klassenlehrerin beklagte die schlechten Noten, doch eine Hilfe beim Lernen hatte es für den Jungen zu Hause nie gegeben. Zudem fiel seiner Lehrerin etwas Eigentümliches an ihm auf: Körperliche Berührungen wehrte er reflexartig ab, nahe ließ er niemanden an sich heran. Wolfgang Bothe musste für vieles, das seine Kindheit beeinträchtigt hatte, eigene Wege der Bewältigung finden.

Als er 1967 die Schule in der 8. Klasse verließ und Rinderzüchter lernte, begann ein langwieriger Kampf um die Möglichkeit, trotz der prekären Voraussetzungen, unabhängiger zu leben, so wie er es sich erträumte. Der mittelgroße, schlanke Jugendliche färbte sich dunkle Strähnen ins blonde Haar, trug eine Sonnenbrille und schlüpfte in unterschiedliche Rollen: Mal fuhr er nach Magdeburg und gab sich dort als Ingenieur und Gemeindearzt aus, mal erzählte er seinen Kollegen, er würde bald als Auslandsmonteur in den Westen geschickt werden. Sobald er die Gelegenheit und das nötige Geld hatte, brach er aus seinem Dorf aus. Die Kneipen und Diskotheken in Halberstadt zogen ihn an. Hier wollte er im Mittelpunkt stehen, auch wenn es nur für einen Abend reichte, an dem er Sekt in Lokalrunden spendierte. Zurück im Alltag ertrug er Arbeitsstellen als Melker, Heizer, Viehpfleger oder Hilfsarbeiter in einem Sägewerk nirgends für längere Zeit. Weil er, statt eine Braut mit nach Hause zu bringen, bei einem Freund übernachtete, beschimpften ihn seine Kollegen bald als „Homo“ und „Pavian“. Am 19. April 1971 versuchte der Ausgegrenzte, in der Nähe von Badersleben in die Bundesrepublik zu flüchten. Er wurde festgenommen und zu einer Haftstrafe von zehn Monaten verurteilt. Die Mutter besuchte ihn im Gefängnis, wo er ihr versicherte, nie wieder über die Grenze zu wollen. Doch wieviel Kraft kann man über Jahre hinweg für den Versuch aufbringen, ein Anderer zu sein, als der, der man von seiner sozialen Existenz her sein sollte? Im März 1980 bemerkten seine Kollegen des VEB Getreidewirtschaft in Badersleben, dass sich Wolfgang Bothe verändert hatte. Gleich nach Feierabend verließ er das Dorf und fuhr, ohne sein Zimmer bei der Mutter zu betreten, sofort nach Haldensleben zu einem Freund. Vom 30. März an blieb er auch der Arbeit fern. Er hatte offenbar mit seinem bisherigen Leben abgeschlossen.

Am 7. April 1980 folgte der 28-Jährige der heutigen B 79, die von Badersleben (Landkreis Harz) in das niedersächsische Mattierzoll führt. Bei Veltheim am Fallstein löste er 60 Meter vor dem Grenzverlauf eine am äußeren der beiden Grenzzäune angebrachte Splittermine (SM-70) aus. Unmittelbar darauf bargen Angehörige der DDR-Grenztruppen den bewusstlosen Wolfgang Bothe und brachten ihn ins Kreiskrankenhaus Halberstadt. Er hatte, bis auf seinen Personalausweis, den Sozialversicherungsausweis und 16 Pfennige in einer Geldbörse, nichts bei sich. Die im Krankenhaus festgestellten Verletzungen waren gravierend: 28 Splitter waren unter anderem in den Schädel und den Brustkorb eingedrungen und hatten einen Schockzustand sowie Zerstörungen im Hirn, in der Lunge und in der Leber verursacht. Um die inneren Verletzungen zu schließen, entschlossen sich die Ärzte noch in der gleichen Nacht zu einer Notoperation. Doch die Wundheilung verlief nicht komplikationsfrei: Gefäße rissen wieder auf, eine spastische Lähmung der gesamten linken Seite trat ein, und es gelang auch in zwei weiteren Operationen nicht, einen Splitter aus dem Gehirn zu entfernen. Ohne ansprechbar zu sein, blieb Wolfgang Bothe unruhig, auf Berührungen reagierte er aggressiv. Es war wie in der Kindheit, wenn ihm jemand zu nahe trat. Skeptisch beurteilten die Mediziner am 6. Mai 1980 gegenüber der Staatsanwaltschaft Magdeburg, die einen Haftbefehl erlassen hatte, die Genesungsaussichten des Patienten. Durch den Hirndefekt werde er keine Fragen zu seinen Fluchtmotiven mehr verstehen und beantworten können. Auch die Lähmung werde bestehenbleiben. Der Zeitpunkt seiner Entlassung in ein psychiatrisches Pflegezentrum lasse sich noch nicht festlegen. Fünf Tage später versagten Herz und Kreislauf von Wolfgang Bothe.

Die Ermittlungsberichte vom MfS und der Polizei bezeugen mit kaum verhohlener Verachtung das Klima, in dem es Wolfgang Bothe nicht mehr ausgehalten hatte. Sie bezeichneten ihn als „chronischen Bummelanten“, der eine „asoziale Lebensweise“ geführt, „Orgien“ gefeiert und Kleidung getragen habe, die „von völligem unästhetischen Anblick“ gewesen sei. Als die Mutter am 2. Mai 1980 vernommen wurde, hielt sie entschieden dagegen: „Mein Sohn hat einen guten Charakter und man hört auch überall, daß er sehr hilfsbereit ist. Allerdings hat mein Sohn mir nicht alles erzählt.“

Wegen der tödlichen Verletzung Klaus Seiferts und sechs weiterer Flüchtlinge an der innerdeutschen und Berliner Grenze erhob die Staatsanwaltschaft Berlin am12. Mai 1992 Anklage gegen Heinz Keßler, den ehemaligen Minister für Nationale Verteidigung der DDR, Fritz Streletz, den ehemaligen Chef des Hauptstabes der Nationalen Volksarmee der DDR, und Hans Albrecht, den ehemaligen 1. Sekretär der Bezirksleitung Suhl der SED. Das Landgericht Berlin sprach am 16. September 1993 alle Angeklagten der Anstiftung zum Totschlag für schuldig und verhängte Freiheitsstrafen zwischen siebeneinhalb und viereinhalb Jahren, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurden. Gegen die Generalmajore des Grenzkommandos Nord Harald Bär und Johannes Fritzsche, die unter anderem für die Einrichtung von Minensperren verantwortlich waren, erhob die Staatsanwaltschaft Magdeburg am 26. Juli 1995 Anklage. Das Landgericht Stendal erklärte am 19. Januar 1999 Harald Bär und am 24. März 2000 Johannes Fritzsche für verhandlungsunfähig und stellte das Verfahren gegen sie ein.


Biografie von Wolfgang Bothe, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/217-wolfgang-bothe/, Letzter Zugriff: 21.11.2024