Walter Otte war mit acht Jahren das jüngste Kind in der Familie, die sich 1944 nach ihrer Flucht aus dem niederschlesischen Trautliebersdorf (heute: Kochanów, Polen) in Bad Harzburg angesiedelt hatte. Die Mittelschule schloss er 1950 nach der 6. Klasse ab. Nach einer abgebrochenen Lehre als Fleischer übernahm er Hilfsarbeiten, mal im Sägewerk, mal bei einer Baufirma oder im Kohlenhandel. Sein älterer Bruder Herbert beschrieb ihn als akzeptiert und anerkannt. „Dadurch, daß Walter keinen Beruf gelernt hat, sondern nur Gelegenheitsarbeiter war, galt er nicht als Versager. Seine ganze Art war eher etwas ruhig und gelassener, so nach dem Motto: ‚Komm‘ ich heute nicht, komm‘ ich morgen‘.“ Bad Harzburg erreichte 1950 mit fast 30 000 Einwohnern die höchste Bevölkerungsdichte seiner Geschichte. Die folgende Zeit war jedoch von Abwanderung geprägt. 1954 zog Walter Otte in die DDR, ein Jahr nachdem sein Vater, ein Bergmann, an Krebs verstorben war. In Dreileben-Drackenstedt in der Magdeburger Börde arbeitete er in einer LPG. Als Kollegen ihn beschuldigten, einen Diebstahl begangen zu haben, kehrte er 1956 wieder nach Bad Harzburg zurück. Zwei Jahre später zog es seinen Bruder, unzufrieden mit den Arbeitsmöglichkeiten im Kurort, ebenfalls in den Osten, wo er in der Lausitz als Kohlearbeiter begann. Die Familie hielt den Kontakt zu Herbert Otte nicht aufrecht. Vielleicht nahmen sie ihm seinen plötzlichen, abschiedslosen Weggang übel. Walter Otte verlor dadurch wichtige Bezugspersonen. Nachdem 1961 seine Mutter an Diabetes starb, suchte er sich in den Kneipen, bei den Trinkern der Stadt eine neue Familie. Im Alter von 29 Jahren wurde er 1965 wegen mehrerer unter Alkoholeinfluss begangener Straftaten in eine Trinkerheilanstalt eingewiesen.
Am 6. März 1967 überwand Walter Otte die Grenzanlagen bei Abbenrode. In der DDR angekommen, sprach er einen Helfer der Volkspolizei an, der ihn Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit übergab. Diesen erklärte Otte, dass es ihm in der DDR bisher am besten gefallen habe. Deswegen wollte er wieder dahin zurück. Die MfS-Mitarbeiter erwiderten, dass er erst einmal etwas für das Land tun müsse, das ihn aufnehmen soll, und gewannen ihn noch am gleichen Tag als Geheimen Mitarbeiter (GMK). Er nahm den Decknamen „Kohle“ an. Kohle, das war sein täglich Brot als Austräger im Kohlenhandel, aber auch der Bodenschatz, den sein Bruder in der Lausitz fördern half. Die schmale Vorgangsmappe des GMK „Kohle“ endete jedoch schon am 31. Oktober 1967 mit einem Abschlussbericht. War zunächst geplant, Otte nach seiner Rückschleusung in die Bundesrepublik zur Sammlung von Informationen über Zolldienststellen in Bad Harzburg einzusetzen, so hieß es nun, dass er die vereinbarten Trefftermine an der Grenze nicht wahrgenommen habe und ungeeignet für eine weitere Zusammenarbeit sei. „Die Sicherheit im Operationsgebiet“, heißt es im Abschlussbericht, „kann ihm unter diesen Umständen nicht mehr garantiert werden“. Es scheint, als ob Walter Otte in den ihm noch verbliebenen neun Lebensjahren alles daran setzte, diese Sicherheit immer wieder einzufordern.
Bereits im September 1967 wurde er wieder im Grenzgebiet aufgegriffen und nach einer Einweisung ins Aufnahmeheim Barby in die Bundesrepublik abgeschoben. Eine Rückschleusung erfolgte auch, nachdem er im August 1969 bei Stapelburg die Grenze überwand. Bei seiner Festnahme habe er angegeben, „daß er in der DDR arbeiten möchte und mit den Verhältnissen in Westdeutschland nicht mehr einverstanden“ sei. Nachdem ihn Angehörige der Grenztruppen am 27. Oktober 1969 in Stapelburg festgenommen hatten, verurteilte ihn das Kreisgericht Wernigerode wegen Gefährdung der Ordnung und Sicherheit im Grenzgebiet zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr. Nach seiner Rückführung in den Westen am 26. Oktober 1970 vergingen sechs Monate, bis Walter Otte erneut im Grenzgebiet bei Ilsenburg aufgegriffen wurde. Bei einer Vernehmung in der Strafvollzugsanstalt Halberstadt erklärte er, dass ihn die Grenznähe der Gaststätte Eckerkrug reize. Wenn er das Lokal betrunken verlasse, verspüre er den Drang, in Richtung DDR zu gehen. Er sei mit seinem Leben unzufrieden und wisse nicht, was er nach der Arbeit tun solle. Die Strafkammer des Kreisgerichts Wernigerode verurteilte ihn diesmal zu zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe.
Inzwischen erschienen auch der westdeutschen Polizei die Grenzgänge Walter Ottes fragwürdig. Ein Bericht der Nachrichtenaußenstelle Goslar vermerkt, dass Otte haltlos und Alkoholiker sei, aber auch als übersiedlungswillig und „stark kommunistisch eingestellt“ eingeschätzt werde. Die DDR-Behörden wiesen ihn aufgrund einer Amnestie im November 1972 aus. Doch bereits am 8. Februar 1973 überquerte er wieder die Grenze, wurde festgenommen und einen Tag später erneut aus dem Land gewiesen. Nun vernahm ihn die Polizei im Westen eindringlich, da sie eine geheimdienstliche Tätigkeit vermutete. Man gab ihm die Möglichkeit zur Offenbarung. Doch der Vernehmer scheint schließlich resigniert zu haben. Er schrieb: „der Wahrheit entsprechende Angaben sind von ihm [Otte] nicht zu erwarten“. Ungewöhnlich reagierten in dieser Zeit auch die Sicherheitskräfte der DDR, die Walter Otte bis zum 18. Juni 1974 noch viermal alkoholisiert in den Grenzanlagen aufgriffen. Man beschränkte sich nun jedes Mal darauf, ihm zu erklären, dass er in der DDR unerwünscht sei, um ihn umgehend wieder auszuweisen. Unter den Grenzern der Kompanie Stapelburg war der Bad Harzburger als lästig aber ungefährlich bekannt, seine Rufe „Hallo Freunde!“ oder „Freunde, wo seid ihr?“ dürften des Öfteren Gesprächsstoff geboten haben.
In Bad Harzburg bewohnte Walter Otte 1976 ein Zimmer in einer Unterkunft für Sozialhilfeempfänger. Beim örtlichen Kohlenhändler Trull führte er Aushilfsarbeiten durch. Wenn er erzählte, dass er „drüben“ gewesen war, glaubten ihm dies nur wenige angesichts der hermetisch abgeriegelten Grenzanlagen. Der 40-Jährige galt als „Spinner“. Vermutlich las Otte die Zeitungsmeldungen im Mai 1976 nicht, die vom Tod Michael Gartenschlägers berichteten. Vielleicht konnte er sich auch gar nicht vorstellen, dass sich die Atmosphäre im Eckertal durch die Vorfälle verändern würde. Tatsächlich erwarteten die DDR-Staatssicherheit und die Grenztruppen dort „Anschläge“ von Nachfolgern der „Gruppe Gartenschläger“. Erst wenige Wochen zuvor hatte jemand Lampen in den Grenzsicherungsanlagen durch Schüsse und Steinwürfe zerstört. Deshalb wurden als „Sondermaßnahme“ neben den obligatorischen Grenzposten zusätzliche Grenzaufklärer (GAK) westlich der Grenzzäune eingesetzt, die Aktionen gegen die Grenzanlagen unterbinden sollten. Am 10. Juni 1976 lief Walter Otte gegen 23 Uhr den Bahndamm der ehemaligen Strecke Bad Harzburg – Ilsenburg entlang, um erneut in die DDR zu gelangen. Sein Geld hatte er in einer Kneipe vertrunken. Als er auf den ersten Grenzzaun stieß, rüttelte er an diesen und rief: „Hallo Freunde, hier bin ich … helft mir rüber!“ Grenzposten meldeten das ihrem Zugführer, der zwei Grenzaufklärern über das Grenzmeldenetz befahl, sich vor die Grenzbefestigungen zu begeben und den „Provokateur“ festzunehmen. Stabsfeldwebel Erwin G. und sein Posten Unterfeldwebel Peter D. näherten sich Otte von hinten. Was nun geschah, lässt sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Nach Feststellung des Landgerichts Magdeburg aus dem Jahr 2000, sei Erwin G. über die Grenzverletzung so empört gewesen, dass er diese auf jeden Fall unter Einsatz seiner Schusswaffe beenden wollte und auf den am Grenzzaun Stehenden ohne Vorwarnung geschossen habe. Der Schütze Erwin G. sagte hingegen aus, Walter Otte habe sich zu Boden geworfen und sei für ihn nicht mehr sichtbar gewesen, als er schoss. Die beiden von ihm abgegebenen Schüsse durchschlugen Walter Ottes Körper am rechten Arm und in der Bauchgegend. Die Grenzaufklärer fanden ihn am Bahndamm liegend. Zunächst klagte er noch über Schmerzen im Bauch, dann verlor er das Bewusstsein. Ein Bergetrupp der DDR-Grenztruppen transportierte ihn durch die Grenzanlagen zum Gebäude des Bataillonsstabes Ilsenburg. Der um 0.30 Uhr eingetroffene Arzt konnte nur noch Walter Ottes Tod feststellen.
Da Walter Otte als zweiter Bundesbürger nach Michael Gartenschläger innerhalb von sechs Wochen an der innerdeutschen Grenze erschossen wurde, rechnete die DDR-Seite mit einem negativen Medienecho, mit Protesterklärungen aus der Bundesrepublik und zwischenstaatlichen Spannungen. Deswegen versuchte der DDR-Staatssicherheitsdienst, das Geschehene zu vertuschen. Ottes Leichnam wurde zunächst in die vom MfS geführte Untersuchungshaftanstalt Magdeburg-Neustadt überführt. Von dort aus brachten ihn MfS-Mitarbeiter in die Magdeburger GlacisAnlagen, legten neben ihn eine Pistole ab und fotografierten den Toten als vermeintlichen Selbstmörder. Über den Leichenfund wurde eine Meldung im Neuen Deutschland veröffentlicht. In der Nacht vom 11. zum 12. Juni brachte das MfS die Leiche schließlich ins Magdeburger Institut für Gerichtliche Medizin, wo sie als unbekannt aufgefundener Mann obduziert wurde. Danach erfolgte am 23. Juni 1976 im Krematorium des Westfriedhofes Magdeburg die Einäscherung der sterblichen Überreste Walter Ottes und am 6. Juli 1976 seine anonyme Beisetzung in einer Aschenreihenstelle.
Walter Ottes Verschwinden löste in Bad Harzburg keine polizeilichen Ermittlungen aus. Sein Arbeitgeber nahm an, dass er wieder einmal in der DDR in Haft sitzen würde. Von seinem Tod an der Grenze erfuhr man dort erst nach dem Ende der DDR. Der Spiegel berichtete 1991, dass Otte als „ehemaliger ‚Geheimer Informant‘ der Stasi-Hauptabteilung I in eine Falle gelaufen“ sei: „die einstigen Auftraggeber hatten ihn offenbar liquidieren lassen“. Die Frage nach der Rolle des MfS bei der Tötung Ottes spielte auch in den von 1991 bis 1997 laufenden Ermittlungsverfahren gegen Erwin G. eine wichtige Rolle. Hatte G., der als erfahrener und zuverlässiger Grenzaufklärer bekannt war, den Auftrag erhalten, Otte zu erschießen? Die Überlieferungen des Staatssicherheitsdienstes enthalten weder einen Hinweis noch ein Motiv für einen solchen Auftrag. Mitarbeiter des MfS versicherten dem Todesschützen Erwin G., alle Spuren würden verwischt, damit der Todesfall nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden könne. Die Stasi warb Erwin G. nach der Tat als Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) an. In seiner MfS-Personalakte befinden sich Unterlagen über den Tod Walter Ottes, die man vermutlich aufbewahrte, um seine „Bindung an das MfS“ auch für die Zukunft absichern zu können.
Das Landgericht Magdeburg sah es am 30. Juni 2000 als erwiesen an, dass Erwin G. trotz der erkennbaren Harmlosigkeit Ottes beim Gebrauch seiner Schusswaffe den Tod des Grenzgängers in Kauf nahm. Es verurteilte ihn wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe. Gegen dieses Urteil erhob der Angeklagte Einspruch. Mit seiner Entscheidung vom 17. Mai 2001, den Schuldspruch auf Totschlag abzuändern und die Sache zu neuer Verhandlung an das Landgericht Dessau zu weisen, vertrat der Bundesgerichtshof die Auffassung, Erwin G. könne nicht zur Last gelegt werden, sein Opfer heimtückisch getötet zu haben. Mit Blick auf die erhebliche Indoktrination und den besonderen Druck der Befehlslage sowie weiterer strafmildernder Aspekte reduzierte das Landgericht Dessau die Freiheitsstrafe auf drei Jahre.