Der 17-jährige Werner Thiemann arbeitete als Melker in einem landwirtschaftlichen Betrieb in Altenweddingen (Landkreis Börde). Mit Harry H., einem befreundeten Kollegen, der wie Thiemann die Politik der SED ablehnte, hatte er schon vor mehreren Monaten den Entschluss gefasst, die DDR zu verlassen. Am 6. August 1953 wollten sie ihre Fluchtabsichten verwirklichen. Ohne genau zu wissen, was sie im Grenzgebiet erwarten würde, gingen sie in Richtung Bundesrepublik. Sie hofften darauf, an einem Grenzfluss leicht das westliche Ufer erreichen zu können. Am 7. August kamen sie im Bereich des Grenzkommandos Ohrsleben (Ortsteil von Hötensleben) an. Gegen 6.10 Uhr liefen sie einen Feldweg an der ehemaligen Bahnstrecke nach Jerxheim (Niedersachsen) entlang. Die Grenzpolizisten Kurt S. und Edwin G. hielten sie zunächst für Arbeiter. Doch als sie die schweren Taschen sahen, die die beiden Männer trugen, vermuteten die Grenzer, dass es sich um Flüchtlinge oder illegale Grenzgänger handelte. Der Gefreite Kurt S. befahl seinem Posten Edwin G., den Männern, die nun über ein Rübenfeld in Richtung der Sperranlagen liefen, den Weg abzuschneiden und sie festzunehmen.
Als die Flüchtlinge den Grenzpolizisten bemerkten, ließen sie ihr Gepäck fallen und versuchten, ins Hinterland zu entkommen. Kurt S. rief ihnen aus einer Entfernung von etwa 320 Metern zu, sie sollten stehenbleiben, betätigte seine Signalpfeife und gab zwei Warnschüsse ab. Da die Flüchtlinge dennoch weiterliefen, feuerte er gezielt auf einen von ihnen, der daraufhin getroffen zusammenbrach. Der andere lief weiter und versuchte zu entkommen. Auch auf diesen schoss Kurt S. gezielt, bis der Flüchtende zusammenbrach und auf dem Feld liegenblieb. Danach verständigten die beiden Posten durch Signalschüsse das Grenzkommando. Im Rübenfeld fanden sie und zwei herbeigeeilte sowjetische Soldaten die beiden Verletzten. Werner Thiemann hatte einen Hüftdurchschuss mit Verletzungen in Darm und Leber erlitten. Er konnte vor Schmerzen nur noch wimmern. Seinen Freund Harry hatten die Kugeln unterhalb des Knies und im Oberschenkel getroffen. Nach etwa einer Stunde, gegen 7.20 Uhr, traf ein Arzt aus Hötensleben, eine weitere Stunde später ein Krankenwagen bei den Verletzten ein. Dieser transportierte sie nach Haldenleben ins St. Salvator-Krankenhaus.
Harry H. und Werner Thiemann lagen im selben Krankenzimmer. Die Mutter von Harry H. erfuhr als Erste von dem Zwischenfall und besuchte am 8. August 1953 ihren Sohn im Krankenhaus Halberstadt. Noch am Abend berichtete sie Thiemanns Mutter Lisbeth, die im gleichen Haus wohnte, dass es um ihren „Jungen sehr schlecht stehen würde“. Als Frau Thiemann am 9. August im Krankenhaus eintraf, eröffnete man ihr, dass ihr Sohn bereits am Abend zuvor, gegen 21 Uhr, gestorben war.
Die Beinverletzungen von Harry H. verheilten wieder. Auf Anraten anderer Patienten hatte er einer von den Ärzten beabsichtigten Amputation nicht zugestimmt. Nach drei Wochen stationärer Behandlung konnte er wieder in Altenweddingen seiner Arbeit nachgehen. Ein gerichtliches Nachspiel hatte sein Fluchtversuch nicht.
In einer „Stellungnahme zur Schuldfrage“ schrieb die DDR-Grenzpolizeikommandantur, dass Kurt S. „rechtmäßig von der Schußwaffe Gebrauch gemacht hat. Sein Verhalten war wachsam, taktisch richtig und in Übereinstimmung mit den Instruktionen der DGP“ (Deutsche Grenzpolizei). Beide Grenzposten erhielten auf Befehl des Leiters der Hauptverwaltung Deutsche Grenzpolizei eine Prämie von 50 Mark für „gute Wachsamkeit und taktisch einwandfreies Verhalten“. Das Landgericht Magdeburg verurteilte Kurt S. am 6. April 1998 wegen Totschlags zu einer einjährigen Bewährungsstrafe. 1992 hatte er bei einer Vernehmung die Schussabgabe bestätigt. Zum damaligen Zeitpunkt sei er von der Rechtmäßigkeit seiner Handlungen ausgegangen, „gleichwohl tue ihm die Angelegenheit jetzt leid und sein Gewissen sei entsprechend belastet“, heißt es in einem Bericht der Zentralen Erfassungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität.
Sein damaliger Posten Edwin G., der nicht geschossen hatte, erhielt 1953 in der DDR „wegen Kriegs- und Boykotthetze“ eine Gefängnisstrafe von drei Jahren und sieben Monaten. Nach eigener Aussage wurden ihm kritische Äußerungen über die Behandlung der Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei nach 1945 und der Besitz eines bei ihm aufgefundenen Propagandaflugblatts aus dem Westen vorgeworfen. Nach seiner Haftentlassung verließ er die DDR.