Ordensschwester Sigrada wartete bereits seit fünf Wochen darauf, dass ihr der beantragte Interzonenpass von der Kreispolizei ausgehändigt würde. Die 51-jährige Franziskanerin betreute den Kindergarten im damaligen Katholischen Waisen- und Erziehungshaus Oschersleben. Sie hatte sich mit 24 Jahren entschieden, dem Weg ihres Glaubens zu folgen und ihre Weihen im Mutterhaus der Armen Franziskanerinnen in Olpe (Nordrhein-Westfalen) empfangen.
Noch am Morgen des 8. August 1951 hatte sie zum wiederholten Male bei der Kreispolizei in Oschersleben gefragt, ob der Interzonenpass nun für sie bereitliege. Aber auch diesmal war alle Mühe umsonst. Am kommenden Sonntag, dem 12. August 1951, würde ihr Vater seinen 80. Geburtstag feiern. Die Zeit drängte, denn bis in ihre Heimat, ins westfälische Meggen (Lennestadt), war noch eine weite Reise zurückzulegen. Die Oberin des Hauses in Oschersleben hatte die Schwestern bereits mehrfach vor unerlaubten Grenzübertritten gewarnt, doch sie wollte Schwester Sigrada, die bereits seit 20 Jahren in ihrem Hause diente, die Freude der Heimreise auch nicht verwehren.
Am 8. August 1951 fuhr sie um 13.20 Uhr mit der Bahn von Oschersleben nach Hötensleben. Das Wetter war angenehm, ein wolkiger kühler Sommertag. In Hötensleben wollte Sigrada zunächst eine ihr bekannte Familie besuchen. Im Waisenhaus waren ihre Reisepläne bekannt. Um wie viel größer war die Bestürzung, als am 11. August morgens die Kriminalpolizei Oschersleben beim katholischen Pfarramt anrief und mitteilte, dass Schwester Sigrada bei Hötensleben tot aufgefunden worden sei und man ihre Tasche auf der Polizeiwache abholen solle.
Die Leiche der Ordensschwester wurde laut einem Bericht des Katholischen Waisenhauses am Freitag den 10. August von einem Schäfer gefunden, weil dessen Hund die Tote bemerkt hatte. „Es sei dann auch der russische Kommandant gekommen, habe einen Arzt geholt. Zwei Kinder unseres Waisenhauses, die z. Zt. zur Erholung in Hötensleben weilen, haben unsere Schwester erkannt und sind weinend zur katholischen Krankenschwester in Hötensleben gelaufen; die hat dann am Abend noch dafür gesorgt, daß die Leiche in Hötensleben in die Leichenhalle überführt wurde.“ Zwei hinzugezogene Ärzte konnten keine Todesursache feststellen. Die Polizei selbst ging laut einer Tageskurzmeldung vom 10. August zunächst von einem Mord aus.
Am 11. August wurden die sterblichen Überreste von Schwester Sigrada nach Oschersleben überführt und in der Leichenhalle des Friedhofes aufgebahrt. Dort wurde auch die Obduktion durchgeführt. „Von unserer Seite“, heißt es in dem Bericht des Waisenhauses, „durfte niemand dabei sein“. Nach der Freigabe der Leiche durften eine Schwester des Waisenhauses, der Kaplan und ein Hausarzt in der Leichenhalle mit dem Magdeburger Gerichtsarzt sprechen, der ihnen erklärte, Schwester Sigrada habe einen Herzschlag erlitten. Ein Bluterguss am Oberarm könne auf eine versuchte Gewalttat hinweisen. Schwester Sigrada wurde am Nachmittag des 13. August unter großer Anteilnahme aus dem kirchlichen Umfeld und der Stadt auf dem Friedhof von Oschersleben beigesetzt. Hunderte Trauergäste gaben ihr das letzte Geleit, darunter viele ehemalige Kindergartenkinder Sigradas sowie deren Eltern. Kaplan Kluge, der im Waisenhaus wohnte und täglich mit den Ordensschwestern zu tun hatte, sagte in seiner Trauerrede:
„27 Jahre Dienst am Kind und davon 20 Jahre allein hier in Oschersleben. Welch eine Opferkraft setzt das voraus. Aber sie hat Tag für Tag unverdrossen ihre Pflicht getan, und das hätte sie niemals tun können, ohne die besondere Gnadenkraft des Herrn. […] Sie, die mit Leib und Seele im Kindergarten daheim war, mußte es erleben, daß in der Zeit des Nationalsozialismus immer neue Besichtigungen kamen, Bespitzelungen, Verdächtigungen und schließlich die brutale Schließung ihres Kindergartens. Welch eine Bitterkeit! Noch neulich sagte sie zu mir in Erinnerung daran: ‚Ein zweites Mal könnte ich das nicht mehr ertragen!‘ Und daneben noch die Sorgen um ihre größeren Kinder, deren Lebensgang sie wie eine Mutter verfolgte. Wie hatte sie da oft über verirrte Menschenkinder bittere Sorgen empfunden! Und wie hatte sie gerade gelitten unter allen Bedrängnissen der Zeit! Sie vertrat furchtlos ihre Meinung auch vor Andersdenkenden, und so gilt das Wort des Evangeliums heute vor ihr in besonderer Weise: ‚Jeder, der mich vor den Menschen bekennt, wird der Menschensohn bekennen vor den Engeln Gottes!‘“
Mit den Worten „dieses tragische Dunkel, das nun ihr Sterben umgibt“ deutete Kaplan Kluge nur an, was viele Bürger in Oschersleben dachten, die weder an einen natürlichen Tod der Ordensschwester noch an eine wahrheitsgemäße Aufklärung durch die Volkspolizei glaubten. Die bereits erwähnten zwei Waisenhauskinder, die in Hötensleben Ferien verlebten, waren aufgeregt nach Hause gekommen, nachdem sie die Leiche ihrer Kinderschwester Sigrada an der Grenze erkannt hatten. Sie berichteten von einem Loch in der Schläfe, erinnerte sich ein Angehöriger ihrer damaligen Gastfamilie. „Wir konnten damals ja nichts sagen. Doch ein Herzinfarkt war das sicher nicht.“ Ein weiterer Zeitzeuge, der Hötenslebener Günther Drewes, berichtete 2007 einem Journalisten der Wochenzeitung Tag des Herrn, dass er als Elfjähriger beim Spielen mit Freunden auf dem Gelände der Hötenslebener Kippe einen Schuss gehört habe. Gleich darauf seien er und die anderen Kinder hingelaufen und hätten „eine Frau in Ordenstracht entdeckt, die blutüberströmt am Boden lag“ und sowjetische Soldaten, die sie wegscheuchten. Doch für diese Zeugenaussagen finden sich in der ohnehin bruchstückhaften historischen Überlieferung keine Belege.
Seit Juli 2007 erinnert ein Gedenkkreuz an Schwester Sigrada. Das drei Meter hohe Holzkreuz mit einem Gedenkstein steht nahe der Hötenslebener Mühle, wo man ihre Leiche fand. Das Erinnerungszeichen verweist nicht allein auf die ungeklärten Todesumstände der Ordensschwester, es soll auch, wie der Initiator des Projekts Jürgen Wolke, Küster der Hildesheimer Basilika St. Godehard, erklärt, „das soziale Wirken von Schwester Sigrada in ihrem Orden würdigen“.