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Biografisches Handbuch

Roland Kremer

geboren am 28. Oktober 1949 in Plauen | gestorben am 14. August 1973 in Plzeň an den Folgen einer Schussverletzung | Ort des Zwischenfalls: Stadt Hranice u Aše, OT Pastviny (dt. Friedersreuth), ca. 150 m vor den Grenzanlagen
Der 23jährige Mechaniker Roland Kremer aus Plauen wurde beim Versuch, mit seinem Freund Konrad G. über die ČSSR in die Bundesrepublik zu flüchten, von einem Grenzsoldaten angeschossen. Zehn Tage kämpfte er schwer verletzt ums Überleben, dann versagte sein Herz

Roland Kremer ist in Plauen aufgewachsen, wo er eine zehnjährige Schulbildung erhielt. Anschließend lernte er den Beruf des Drehers beim Druckmaschinenhersteller VEB Plamag Plauen. Von 1968 bis 1970 diente er als Wehrpflichtiger in der NVA und ließ sich nach seiner Rückkehr im Plauener VEB Kombinat Robotron zum Wartungsmechaniker umschulen. Für seine Arbeit fuhr er im betriebseigenen Škoda zu den Kunden und reparierte Rechenmaschinen, nebenbei qualifizierte er sich weiter. Da er noch bei seiner geschiedenen Mutter, einer Verkäuferin, wohnte, hatte er über seinen Betrieb die Zuteilung einer Einraumwohnung beantragt. Unter seinen Kollegen galt er als ruhig, diszipliniert und hilfsbereit, nach der Arbeit fuhr er gern Motorrad. Für Politik wird er sich nicht interessiert haben. In einer Beurteilung seines Betriebes heißt es: „Man kann trotz der gewissen Passivität nicht sagen, daß Kollege Kremer unserem Staat negativ gegenüberstand.“ Für Polizei und Staatssicherheit war er ein völlig unbeschriebenes Blatt.

Seit 1970 war Roland Kremer mit dem neun Jahre älteren Konrad G. eng befreundet, der als Betriebsabrechner im VEB Spezialmaschinenbau Plauen arbeitete. G. hatte von 1958 bis 1962 als Unteroffizier im Wachregiment „Felix Dzierzynski“ in Berlin gedient, wechselte danach oft seine Arbeitsstellen und zog 1968 nach Plauen. Zunächst arbeitete er als Bergmann in der Wismut AG, nach einem Unfall schulte er zum Industriekaufmann um. Er war SED-Mitglied, geriet jedoch immer wieder mit seiner Partei in Konflikt. Seine Ehe war geschieden.

Am 4. August 1973 passierten Roland Kremer und Konrad G. als Touristen auf Kremers Motorrad den Grenzübergang Schönberg/Vojtanov und fuhren ins 14 Kilometer entfernte Aš, wo sie sich bis zur Mittagszeit aufhielten. Zehn Kilometer weiter nördlich kamen sie ins grenznahe Pastviny und versteckten dort ihr Motorrad, ihre Helme und eine Gepäcktasche in der Nähe eines Wochenendhauses an einem Waldrand. Roland Kremer nahm nur seinen Personal- und Sozialversicherungsausweis, seine Fahrerlaubnis, eine Landkarte, Geld und ein Päckchen Wäsche mit sich. Im bewaldeten Grenzgebiet wollten sie die Nacht abwarten. Zuvor hatte jedoch der Besitzer des Wochenendhauses die beiden jungen Männer bemerkt. Er nahm zunächst an, dass sie Pilze suchen wollten, doch als am Abend das Motorrad noch immer an seinem Platz stand, verständigte er um 19.50 Uhr eine Kontrollstreife der Grenzkompanie. Nach Eingang der Meldung bei der Grenzschutzkompanie Pastviny löste der diensthabende Offizier Unterleutnant Brečka fünf Minuten später Grenzalarm aus. Die Wachen wurden, soweit sie über Funk oder Telefon erreichbar waren, informiert und der Schutz der Grenze am Signalzaun verstärkt.

Roland Kremer und Konrad G. wurden jedoch von einem Grenzsoldaten entdeckt, der mit seinem Wachhund an der Grenze entlang patrouillierte und von dem Grenzalarm nichts wusste, weil er nicht über Funk erreichbar war. Der 20jährige Soldat Julius Šarkány durchquerte um 20.12 Uhr ein Roggenfeld am Waldrand, als sein nicht angeleinter Hund eine Witterung aufnahm und in den Wald hineinlief. Šarkány sagte in seiner noch am selben Tag erfolgten Vernehmung, er sei hinter seinem Hund hergelaufen und habe im Wald, noch 150 Meter vor dem ersten Drahthindernis, zwei Männer entdeckt. Er habe ihnen zugerufen, sie sollen die Hände hochnehmen. „Auf meine Aufforderung reagierten sie überhaupt nicht. Sie griffen den Hund an und schlugen ihn mit Stöcken. Daraufhin feuerte ich eine Leuchtkugel ab, mit der ich um Hilfe bat“ – hierfür lief Šarkány wieder zum Waldrand – „und kehrte daraufhin zum Tatort zurück. Als ich meine ganze Aufmerksamkeit auf den einen Täter verwandte, bemerkte ich im letzten Augenblick, daß der zweite Täter auf mich zukam und mich angreifen wollte. Um diesem Angriff zuvorzukommen, benutzte ich gegen diesen Täter die Schußwaffe.“ Šarkány gab aus seiner Maschinenpistole auf den etwa sechs Schritt von ihm entfernten Roland Kremer drei Schüsse ab. Ein Geschoss durchdrang die linke Schulter und verletzte die Schlagader und das Nervenzentrum der linken Hand. Gleich darauf erreichte eine Alarmgruppe, die schon in Bereitschaft war, den Tatort.

Kremer und G. wurden festgenommen und in Handschellen gelegt, daraufhin brach der Schwerverletzte zusammen und verlor das Bewusstsein. Im Ermittlungsbericht des Stabschefs der 5. Grenzbrigade, Oberstleutnant Egermeyer, heißt es weiter, dass Kremer nun die Handschellen wieder abgenommen wurden, die Soldaten ihm Erste Hilfe leisteten und zu ihrem Geländewagen vom Typ „GAZ“ brachten. Nach Rücksprache mit dem diensthabenden Offizier transportierten sie ihn zum Krankenhaus nach Aš.

In das Krankenhaus Aš wurde Roland Kremer bereits im Zustand des klinischen Todes eingeliefert, sein Blutverlust aus der verletzten Schlagader war zu groß. Mit Bluttransfusionen und dem Einsatz des Beatmungsgeräts retteten ihn die Ärzte und begannen eine Notoperation, bei der das Blutgefäß wieder geschlossen werden konnte. Hierbei trat abermals der klinische Tod ein und auch diesmal gelang die Reanimation. Noch am selben Tag leitete das Untersuchungsorgan der Grenzsicherungseinheit Cheb ein Strafverfahren wegen des versuchten Grenzdurchbruchs gegen Kremer und G. ein. Am Morgen des 5. August untersuchte eine Kommission unter Leitung von Oberstleutnant Egermeyer den Tatort und rekonstruierte den Ablauf. Egermeyer rechtfertigte in seinem Bericht den Schusswaffengebrauch, wie zuvor schon der Plzeňer Militärstaatsanwalt Oberstleutnant Suchmann, „denn vorher wurden andere Mittel, einbegriffen das Benutzen des Diensthundes, eingesetzt“. Šarkány sollte, so der Vorschlag Egermeyers, für „erwiesene Tapferkeit, Entschlossenheit und gewissenhafte Dienstdurchführung“ prämiert werden.

Konrad G. bestritt bei seiner ersten Vernehmung nach der Festnahme jegliche Fluchtabsicht und versicherte, er und sein Freund hätten sich beim Pilze suchen verlaufen. Der Gesundheitszustand von Roland Kremer besserte sich zunächst. Am 6. August bestand keine Lebensgefahr mehr und Mitarbeiter des Untersuchungsorgans der ČSSR-Grenzsicherungseinheit konnten ihn mit Hilfe eines Dolmetschers vernehmen. Roland Kremer gab dabei den Angriff auf den Grenzsoldaten zu. Als der Hund ihn und Konrad G. angriff, wollten sie sich zunächst verstecken, doch dann rief ein Soldat sie aus etwa 30 Metern Entfernung an. Da sei kein Tschechisch sprachen, konnten sie ihn nicht verstehen, antworten aber auf Deutsch, dass er nicht schießen solle, und wehrten sich mit Stöcken gegen den Hund. „Der Soldat rief uns wieder etwas zu. […] Ich aber lief in Richtung des Soldaten, wobei der Hund hinter mir herlief. Ich gebe zu, daß ich den Soldaten angreifen wollte. Er hat jedoch aus ca. 3 m Entfernung auf mich geschossen. Auf mehr kann ich mich nicht besinnen, denn ich habe die Besinnung verloren.“

Am 6. August übergaben Mitarbeiter der tschechoslowakischen Staatssicherheit Konrad G. am Grenzübergang Vojtanov/Schönberg dem MfS. Konrad G. schilderte am 7. November 1973 in der Untersuchungshaftanstalt Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) den Zwischenfall an der ČSSR-Grenze deutlich abweichend und hob dabei die Brutalität der Festnahme hervor. Er und Roland Kremer hätten versucht, sich gegen die Angriffe des Schäferhunds mit Zweigen zu wehren. „Der Hund hatte sich im Arm meines Freundes verbissen und diesen zu Boden gerissen. In der Zwischenzeit hatte sich der Soldat um bis auf ca. 25 bis 30 m genähert. Ich erhob die Hände zum Zeichen meines Ergebens. Mein Freund lag noch am Boden, vom Hund in Schach gehalten. Der Soldat kam näher und redete auf meinen Freund ein. Mein Freund, in der Annahme er solle sich erheben, stand auf. Der Hund hing immer noch an seinem Arm. Ich sah das Aufblitzen der Maschinenpistole, hörte einen Schuß und sah meinen Freund zusammenbrechen. Ich war wie versteinert, konnte einfach nicht begreifen, warum der Soldat geschossen hatte.“ Bei seiner Festnahme wurde Konrad G. in Handschellen mit Fußtritten aus dem Wald zu einem Getreidefeld getrieben. „Ich mußte mitansehen, wie man meinen Freund angeschleift brachte. Wie er wie ein Bündel Wäsche auf einen bereitstehenden Wagen befördert wurde. Danach wurden mir die Augen verbunden und man schlug mit Gewehrkolben auf mich ein. Dabei schlug man mich auf den Rücken und in den Magen. Ich erhielt einen Schlag auf den Kopf, dann verlor ich das Bewußtsein.“

Nach seinem Freikauf durch die Bundesregierung berichtete Konrad G. am 30. September 1974 der Polizeidirektion Hannover ausführlich über die Todesumstände seines Freundes seine eigene Behandlung nach der Auslieferung an den DDR-Staatssicherheitsdient: „Vor meiner Überführung nach Karl-Marx-Stadt waren die Behörden in Schönberg sehr daran interessiert, von mir ein Geständnis zu bekommen. Zu diesem Zweck wurde ich in eine etwa 1 qm große Standzelle eingesperrt. Nachdem ich 2 Std. darin verbracht hatte, war ich aufgrund meines angegriffenen Gesundheitszustandes (erhaltene Schläge bei der Festnahme in der CSSR) zu einem Geständnis bereit. Ich habe dann unter Aufsicht schriftlich niedergelegt, daß mein Freund Roland Kremer und ich beabsichtigt hatten, in die BRD zu fliehen.“ Anschließend wurde er in die Untersuchungshaftanstalt des MfS in Karl-Marx-Stadt verlegt und bis um 5.00 Uhr morgens weiter vernommen. Auch das Motorrad Kremers wurde an diesem Tag dem MfS übergeben. Es wurde eingezogen und über den VEB Maschinen- und Materialreserven in Karl-Marx-Stadt verkauft. Der Erlös sollte auf das Konto der Staatsbank des MfS überwiesen werden.

Die Übergabe des schwerverletzten Roland Kremer an die DDR-Staatsicherheit war für den 8. August 1973 am Grenzübergang Vojtanov/Schönberg vorgesehen. Dort sollte er in einen Krankenwagen der MfS-Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt umgelegt werden. Da sich sein Zustand stark verschlechterte, konnten ihm die Ärzte des Krankenhauses in Aš keine Transportfähigkeit bescheinigen und überwiesen ihn am 9. August in das Staatliche Fakultätskrankenhaus Plzeň. Dessen Leitung berichtete am 10. August der tschechoslowakischen Staatssicherheit, dass der Gesundheitszustand Kremers sehr ernst sei, es gebe Anzeichen einer Nierenunterfunktion, die wahrscheinlich durch einen Nierenschock hervorgerufen worden sei. Noch am selben Tag wurde er an eine künstliche Niere angeschlossen. Neben einer schweren Niereninsuffizienz wurden in den nächsten Tagen auch Bluthochdruck und Anzeichen einer Lungenentzündung festgestellt. Obwohl die Ärzte noch mehrmals ein Dialysegerät einsetzten, konnten sie die weitere gesundheitliche Verschlechterung nicht aufhalten. Das Herz begann unregelmäßig zu schlagen und setzte schließlich aus. Roland Kremer stab am 14. August um 15.30 Uhr.

Einen Tag später berieten in der Grenzübergangsstelle Schönberg von 18.30 bis 22.00 Uhr die Mitarbeiter des tschechoslowakischen Sicherheitsorgans Oberstleutnant Michal und Genosse Vocaty mit Major Schubert und Oberleutnant Ehrig vom Untersuchungsorgan der MfS-Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt über den Umgang mit dem Todesfall. Während die tschechoslowakische Seite vorschlug, die Leiche mit allen Protokollen und Gutachten nach der Sektion in die DDR zu überführen, erklärte Major Schubert, dass die Leiche eingeäschert werden solle. Dies sei mit der Hauptabteilung in Berlin so abgesprochen. Die Urnenüberführung solle dann über den Generalstaatsanwalt der DDR abgewickelt werden. Auch dürfe der Totenschein keine Angaben über die Schussverletzung, sondern nur über die unmittelbare Todesursache enthalten. Dass den Eltern Roland Kremers bisher weder der kritische Zustand noch der Tod ihres Sohnes mitgeteilt worden war, geht aus der Festlegung hervor, dass erst, wenn eine offizielle Mitteilung über „das Vorkommnis“ beim Generalstaatsanwalt der DDR eingehe, „eine Benachrichtigung der Angehörigen des KREMER über dessen Tod erfolgen kann“. Die tschechischen Sicherheitsorgane bestätigten einen Tag später diese Festlegungen.

Am 16. August wurde die Leiche Kremers im Institut für Gerichtsmedizin in Plzeň obduziert. In ihrem Obduktionsprotokoll hielten Dr. Helena Kvapilova und Dr. Karel Pitr als Todesursache fest: „Roland Kremer verstarb infolge einer Verletzung lebenswichtiger Organe, vor allem der Niere, des Herzens und des Gehirns, hervorgerufen durch einen Schock nach der Verletzung, durch sehr hohen Blutverlust durch die Verletzung des linken Schulterblutkreislaufes.“ Von einer solchen Verletzung war im offiziellen Totenschein, den der Rat des Stadtbezirkes Plzeň am 17. August ausstelle, nichts mehr zu lesen. Hier galten eine Lungenentzündung, eine „hypertense Krankheit“ und die „akute Unterfunktion der Nieren“ als Todesursache. Am 23. August wurde die Leiche im Krematorium des Zentralfriedhofs Plzeň eingeäschert, die Urne am 13. September in die DDR überführt und am 23. Oktober in Plauen beerdigt.

Das Kreisgericht Plauen verurteilte Konrad G. am 5. November 1973 in einer nicht öffentlichen Verhandlung wegen versuchter Republikflucht im schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten. Vom Tod seines Freundes erfuhr er erst nach neun Wochen Untersuchungshaft. Noch aus der MfS-Untersuchungshaftanstalt Karl-Marx-Stadt legte Konrad G. mit einem Schreiben vom 7. November 1973 Berufung gegen das Urteil des Kreisgerichts Plauen ein und forderte eine Anklageerhebung wegen „des versuchten Mordes an meinen Freund Roland Kremer“ und „wegen brutaler Mißhandlung an meiner Person nach erfolgter Festnahme. In beiden Fällen liegt eine Verletzung der Menschenwürde, des Menschenrechts und des Humanismus vor.“ Das Gericht leitete die Beschuldigungen an das MfS weiter, in dessen Ermittlungsakten das Schreiben archiviert wurde.


Biografie von Roland Kremer, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/380-roland-kremer/, Letzter Zugriff: 25.04.2024