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Biografisches Handbuch

Hartwig Constantin

geboren am 16. Mai 1940 in Marbach/Thüringen | vermutlich Ende Oktober 1983 in der Ostsee ertrunken | Ort des Vorfalls: Ostsee
BildunterschriftHartwig Constantin
BildquellePrivatsammlung U. Constantin
Quelle: Privatsammlung U. Constantin
Hartwig Constantin versuchte Ende Oktober 1983, schwimmend die DDR zu verlassen. Er startete vermutlich in Boltenhagen. Am 12. November 1983 wurde am Strand von Fehmarn durch einen Spaziergänger seine Leiche entdeckt.

Hartwig Constantin starb im Herbst 1983 bei dem Versuch, die DDR schwimmend von Boltenhagen aus über die Ostsee zu verlassen.

Er wurde am 16. Mai 1940 in Marbach bei Erfurt geboren und entstammte einer im 19. Jahrhundert nach Deutschland zugewanderten griechischen Unternehmerfamilie, die sich im Tabakgewerbe etablieren konnte und einen Firmensitz in Dresden hatte. Hartwig Constantins Eltern hatten sich von diesem Geschäft jedoch abgewandt und zogen nach Marbach in Thüringen. Hier wuchs Hartwig Constantin als mittleres Kind auf. Er hatte eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder.

Hartwig Constantin besuchte nach der Grundschule ab 1954 die Oberschule und machte 1958 Abitur.  In dieser Zeit trat er auch in gängige Massenorganisationen der DDR ein: 1955 in die Freie Deutsche Jugend (FDJ), 1956 in den Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB) und 1958 in den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB). Ob er dies aus Überzeugung tat, ist nicht überliefert. Nach dem Abitur begann er zunächst eine Ausbildung zum Elektromaschinenbauer im Reparaturwerk „Clara Zetkin“ in Erfurt. Im April 1960 bewarb er sich erfolgreich für das kommende Studienjahr 1960/61 an der Fakultät Elektrotechnik der Technischen Hochschule Ilmenau für die Fachrichtung „Hochfrequenz; Starkstromtechnik“.

Wann und wo Hartwig Constantin seine Frau kennenlernte ist nicht bekannt. Am 11. Januar 1961 – noch während seines Studiums – heirateten sie, bezogen aber keine gemeinsame Wohnung. In der Mitteilung an die Hochschule über die Eheschließung ist angegeben, dass seine Frau zu dieser Zeit in Berlin an der Humboldt-Universität studierte. Die frisch vermählten Eheleute wurden noch im selben Jahr Eltern eines Sohnes. Dieser wuchs – vermutlich wegen der sich noch an zwei unterschiedlichen Orten im Studium befindlichen Eltern – die ersten Jahre bei der Großtante auf.

Gegen Ende seines Studiums schloss Hartwig Constantin im Oktober 1965 einen Arbeitsvorvertrag mit dem VEB Elektro-Apparate-Werke Berlin-Treptow (EAW). In diesem verpflichtete er sich, sein Studium ordnungsgemäß und erfolgreich abzuschließen und ab dem 1. August 1966 für den VEB EAW zu arbeiten. Vereinbart wurde ein Einstiegsgehalt von 860,- Mark – ein Betrag, der über dem damaligen Durchschnittsgehalt in der DDR lag. Am 17. Mai 1966 verteidigte er erfolgreich seine Diplomarbeit „Lichtbogenzeitkonstante bei hohen Gasdrücken“ und schloss sein Studium mit dem Gesamturteil „gut“ ab. Die nun kommende neue Lebensphase in der Arbeitswelt bedeutete einen Umzug nach Berlin und nach längerer Zeit auch endlich ein familiäres Zusammenleben mit Frau und Sohn.

In Berlin begann Hartwig Constantin seine Arbeit beim Institut für Regelungstechnik in der Storkower Straße. Er wurde dort Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Hier kannte man ihn nur als „Eddie“, niemand nannte ihn Hartwig. Der auf den ersten Blick mit seinem bürgerlichen Namen nichts gemein habende Rufname entstand irgendwann, vielleicht auch schon vor der Zeit in Berlin, und ist auf die Wortverwandtschaft seines Nachnamens mit dem international berühmten amerikanischen Schauspieler Eddie Constantine zurückzuführen. Der Name „Eddie“ hatte sich derart behauptet, dass er für Hartwig Constantin zur Gewohnheit wurde. Das führte soweit, dass er sich auch nicht angesprochen fühlte, wenn man „Hartwig“ zu ihm sagte.

1967 wurde „Eddie“ ein zweites Mal Vater, eine Tochter wurde geboren. Nunmehr zu viert hatten sie ein für diese Zeit typisches Familienleben. Die jungen Eltern waren, obschon sich vor allem aufgrund der beruflichen Stellungen die Vermutung hierzu nahelegen ließe – seine Frau hatte beim EAW eine leitende Tätigkeit im Verwaltungsbereich – alles andere als staatstreu. Hartwig Constantin war so sehr Gegner der politischen Linie der DDR, dass er den Kindern verbot, Sender des Staatsfernsehens zu schauen. Gleichwohl hatten sie ein gutes Leben. Sie hatten viele Freunde und feierten immer wieder Partys. Sie bekamen auch oft Besuch von einem befreundeten Paar aus Westberlin, Dieser Kontakt entstand vermutlich durch die westliche Verwandtschaft der Constantins, die für sie eine Erbschaft verwaltete. Ein Geldbesitz, der von der DDR aus nicht ohne unwägbare Schwierigkeiten zu erhalten war.  Um dennoch etwas von diesem Erbe zu haben, brachte das Westberliner Paar regelmäßig Bar-Beträge in Westmark mit. Das Guthaben im Westen und die bestehende Möglichkeit, darauf zuzugreifen, verhalf den Constantins, sich ohne Wartezeit ein Auto leisten zu können.

In seiner Abteilung im Institut war „Eddie“ ein sehr geschätzter Kollege und Vorgesetzter. Seine fundierten Fachkenntnisse und Entwicklungen waren für den Betrieb von großem Wert. Er hatte zudem ein kollegiales Wesen und immer ein Ohr für die Belange seiner Mitarbeiter. Seine Abteilung bestand aus 10-12 Personen und hier bildeten sich auch über die dienstlichen Beziehungen hinaus freundschaftliche Verbindungen zu ihm. Es gab gemeinsame Unternehmungen und Treffen. Doch so angenehm das Arbeitsklima in der eigenen Gruppe auch war, mit der Firma war er unzufrieden. Ihn störten der Mangel, die fehlende Wertschätzung und die schlechten Arbeitsbedingungen. Er wollte sich anders verwirklichen und entwickeln als es ihm hier möglich gemacht wurde. Auch der politische Druck plagte ihn. Seine Frau und er wurden immer wieder aufgefordert, in die Partei einzutreten, wogegen sie sich stets wehrten. Mit seiner Ablehnung der Verhältnisse war „Eddie“ in seiner Arbeitsgruppe nicht allein. Sie alle waren nicht gut auf die DDR zu sprechen und die Unzufriedenheit ein großes Thema. Keiner aus dem Team hatte eine staatstragende Meinung und der Zusammenhalt war groß. In privaten Nischen konnte man seinen Unmut äußern, es wurde versucht sich gegen den Druck von außen abzuschotten. Im vertrauten Kreis unterhielt man sich auch über Ausreiseanträge, war sich aber über deren Aussichtslosigkeit einig. Eine heimliche Ausreise war kein Thema bei diesen Gesprächen, wenn auch allgemein bekannt war, dass es diese Variante gab und auch die Ostsee ein Fluchtweg war.

Ungeachtet seines Unmuts mit den Arbeits- und Lebensverhältnissen in der DDR, oder vielleicht auch aus Unnachgiebigkeit, war „Eddie“ ein optimistischer und sehr lebenslustiger Mensch, der gerne in heiterer Gesellschaft war. Die kleinen Hauspartys waren vermutlich ein Rückzugsort in eine kleine Welt, in der das Unbehagen kurzfristig vergessen werden konnte. So waren „Eddie“ und seine Frau bei einem Freund und Mitarbeiter eingeladen und spontan wurde der Abend zu einer angenehm albernen Faschingsparty.

Doch die Fröhlichkeit und Menschenliebe, die er nach außen verkörperte, war innerfamiliär wohl nicht immer gegeben. Der sehr kluge und klardenkende Mann konnte scheinbar auch sehr aufbrausend sein. Dies war ein Problem, das immer wieder zu Konflikten führte und letztlich nicht überwunden werden konnte. Weitere Probleme entstanden in der Ehe wegen der besonderen Nähe Constantins zu einer Kollegin aus der Abteilung.

Als der Sohn schon aus dem Haus und die Tochter fast erwachsen war, ließ seine Frau sich im Mai 1983 von ihrem Mann scheiden und fand bald einen neuen Partner, was für Hartwig Constantin nur schwer zu ertragen gewesen sein muss. Auch wenn die Familiensituation brüchig war, so hätte er eine Scheidung und damit eindeutige Trennung von seiner Frau eigentlich nicht gewollt. Dieser Einschnitt hatte ihn wohl psychisch mitgenommen. Aufgrund der Wohnungsknappheit mussten die geschiedenen Leute weiterhin in der gleichen Wohnung bleiben und ihm wurde Tag für Tag sein schmerzlicher Verlust vor Augen geführt. Er wollte in die Bundesrepublik und das alte Leben hinter sich lassen. Da er aufgrund seiner Stellung als „Geheimnisträger“ galt und ihm die Aussichtslosigkeit eines Ausreiseantragsverfahrens bewusst war, blieb ihm als Möglichkeit nur ein „illegales“ Verlassen des Landes.

Wahrscheinlich plante er, von Boltenhagen aus durch die Lübecker Bucht zu schwimmen. Er war in der Vergangenheit mit der Familie dort einmal im Urlaub gewesen und kannte daher möglicherweise die Sichtnähe der Schleswig-Holsteinischen Küste von dort aus. Ob er die Flucht erst nach der Scheidung plante, oder sich schon länger darauf vorbereitete, ist ungewiss. Schon ein Jahr vor seiner Flucht ist er noch vor der Arbeit früh am Morgen oft zum Schwimmen gegangen. Dies erzählte er auch seinen Mitarbeitern und begründete seine regelmäßige Leibesertüchtigung ihnen gegenüber damit, dass er Rückenprobleme habe und das Training gut für ihn sei. Er ging kontinuierlich zur Schwimmhalle und trainierte dort bis zur Erschöpfung. Was das intensive Training betraf, dachten alle, er würde damit seinen durch die Trennung verursachten Kummer kompensieren. Niemand ahnte, dass er sich damit auf eine Flucht vorbereitete. Nur die Freunde aus Westberlin schienen davon zu wissen. Von ihnen ließ er sich einen Neoprenanzug besorgen, der zu ihm nach Ost-Berlin geschmuggelt werden konnte. Im Herbst besuchte er auch noch einmal seine Familie in Erfurt. Für ihn war dies möglicherweise ein für alle anderen nicht bemerktes Abschiednehmen.

Vermutlich begann seine Flucht am letzten Wochenende im Oktober 1983. Als Hartwig Constantin am Montag, den 31. Oktober 1983, nicht zur Arbeit erschien, wurde seine Ex-Frau benachrichtigt. Vor Sorge, er könne sich etwas antun, meldete diese ihn noch am selben Tag bei der Polizei als vermisst. Doch laut seiner Kollegen war er nicht der Typ für Selbstmord. Am 16. November wurde sein Wagen auf einem Parkplatz in Boltenhagen gefunden. Von hier scheint er abgelandet zu sein, um an die westdeutsche Küste zu schwimmen.

Sein plötzliches Verschwinden hatte unmittelbare Folgen für sein Umfeld. In der Firma gab es anlässlich seiner Flucht eine Abteilungsversammlung, zu der alle Kollegen und Kolleginnen der Abteilung, der Hauptabteilungsleiter sowie der Parteisekretär des Betriebs zusammengerufen waren. Vom Kollegium wurde verlangt, sich von Constantin zu distanzieren und sein Vorgehen aktiv abzulehnen, weil er „Verrat am Staat“ begangen hätte und damit die Abteilung in Stich gelassen habe. Zu diesem Zeitpunkt ging man vermutlich noch von einer erfolgreichen Flucht aus. Doch der Zusammenhalt der Gruppe um Hartwig Constantin blieb bestehen. Anstelle sich von ihrem plötzlich verschwundenen Abteilungsleiter abzuwenden, verließen mehrere Kollegen einfach den Raum. Keiner von ihnen war der Meinung, dass „Eddie“ die anderen im Stich gelassen hätte. Sie waren alle überrascht von den Neuigkeiten, trauten ihm diese Entscheidung zur Flucht jedoch auch zu. Für die meisten im Team war es legitim, dass jeder glücklich werden sollte, wie er gerne möchte und daher hatten alle gehofft, dass „Eddie“ es geschafft hatte. Sein Tod wurde dann vom Betrieb nicht mehr mitgeteilt. Erst durch die Ex-Frau wurde dem Kollegen- und Freundeskreis bekannt, dass „Eddie“ es nicht geschafft hatte.

Am 12. November 1983 entdeckte ein Spaziergänger mittags am Strand von Meeschendorf auf Fehmarn eine männliche, mit einem Taucheranzug bekleidete Leiche. Um den Körper war ein Proviantbeutel aus Leder geschnallt, in dem sich diverse Personalpapiere befanden, die sämtlich auf Hartwig Constantin ausgestellt wurden. Anhand der Lichtbilder in den Ausweispapieren ließ sich Hartwig Constantin eindeutig identifizieren.

Hartwig Constantin wurde auf dem Friedhof Bannersdorf auf Fehmarn beigesetzt.


Biografie von Hartwig Constantin, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/351-hartwig-constantin/, Letzter Zugriff: 29.03.2024