Eiserner Vorhang. Tödliche Fluchten und Rechtsbeugung
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Biografisches Handbuch
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Klaus Reiher

geboren am 20. September 1943 in Zwickau | am 14. September 1962 am Strand von Mrzeżyno tot geborgen | Ort des Vorfalls: Ostsee

Quelle: Privatbesitz Familie Meinel

Am 27. August 1962 versuchte der 18-jährige Abiturient Klaus Reiher von Heringsdorf aus die DDR über die Ostsee zu verlassen, indem er ein Schiff anschwimmen wollte, das ihn außer Landes bringen sollte. Seine Leiche wurde am 14. September 1962 in Polen am Strand von Mrzeżyno geborgen.

Klaus Jürgen Reiher wurde am 20. September 1943 im sächsischen Zwickau geboren. Seine Eltern lebten mit ihm und seiner zwei Jahre älteren Schwester im dem Geburtsort nahe gelegenen Steinpleis. Sein Vater war Autoschlosser.

Klaus Reiher galt als intellektuell, intelligent und musikalisch begabt. Schon als Jugendlicher wollte er in die Bundesrepublik gehen und dort leben. Er befand sich in Kontakt mit in Schleswig-Holstein lebender Verwandtschaft und plante, nach seinem Schulabschluss zu ihnen in den Westen zu kommen. Doch noch vor dem Ende der Schulzeit kam der Mauerbau und mit der Schließung der Grenzen 1961 wurde dieses Vorhaben auf legalem Weg unvorstellbar. Der junge Mann, der für seine Zukunftswünsche in der DDR keine Perspektive sah und auch sonst das dortige Staatssystem, das ab Januar 1962 auch noch die Wehrpflicht eingeführt hatte, ablehnte, ließ sich jedoch nicht aufhalten, an seinen Plänen festzuhalten. Er beschloss, schwimmend aus der DDR zu fliehen und ging aus diesem Grund regelmäßig zum Training, wie sich in seinem Abschiedsbrief an die Familie lesen lässt.

Scherenschnitt eines Dreimasters, gestaltet von Klaus Reiher
Scherenschnitt eines Dreimasters, gestaltet von Klaus Reiher
Quelle: Pivatbesitz Familie Meinel

Er machte im Sommer 1962 in Werdau Abitur und ließ sich gemeinsam mit einigen Klassenkameraden als Rettungsschwimmer in Heringsdorf auf Usedom einsetzen. Unter seinen Freunden war er wohl der beste Schwimmer und wurde von ihnen „Wanja“ genannt.

Montag, der 27. August 1962, war der Tag seines Fluchtversuches. An diesem Tag schrieb er noch einen letzten Brief an seine Familie, in dem er das Vorhaben seiner Flucht, sein Motiv und auch seine Bedenken formulierte. Diesen ließ er ihnen durch einen Freund, der mit ihm in Heringsdorf war, zukommen. In diesem Brief machte er sehr deutlich, dass er das politische System der DDR als menschenfeindlich ansah. Die fehlende Möglichkeit zur freien Berufswahl und individuellen Entwicklung sowie die aufgekommene Wehrpflicht ließen ihn die öffentliche Ordnung als Sklavensystem bezeichnen. In Westdeutschland wollte er dann entweder wie sein Vater Autoschlosser werden, zur Schiffswerft gehen oder seine Abiturprüfung wiederholen, um das Feld der Berufsmöglichkeiten zu erweitern. Sollte sein Vorhaben gelingen, so wollte er sich seine Papiere nachsenden lassen.

Er plante, von Heringsdorf aus ein vor Anker liegendes Schiff anzuschwimmen. Es war keine spontane Idee, er hatte sich über die Eventualitäten Gedanken gemacht: Er hätte sich auf einem ausfahrenden Schiff als Schiffbrüchiger ausgegeben und gehofft, im nächsten Hafen abgesetzt zu werden. Auf einem ausländischen Schiff hätte er dann um Asyl gebeten. Hierbei berücksichtigte er auch schon, dass die weitere Station dann ein polnischer Hafen hätte sein können und der Kapitän in Bedrängnis hätte kommen können. Laut Brief ankerten zu der Zeit zwei Schiffe aus Norwegen vor Ort.

Auch vor einem Scheitern seines Vorhabens und einer Bestrafung der Unternehmung scheute er sich nicht. Er schrieb: „Selbst, wenn mein Anschwimmen der vor Anker liegenden Schiffe fehlschlägt, würde ich Hoffnung haben, dieses System hier in der Haft verfallen zu sehen.“ Neben seiner eigenen Haftung für sein Tun berücksichtigte er auch die Möglichkeit, dass seine Familie in Mitleidenschaft gezogen werden könne. Wahrscheinlich, um ihnen mögliche Bedrängnis zu ersparen schrieb er hinter die Verabschiedung noch in Klammern: „Solltet Ihr gezwungen werden, verurteilt ruhig meine Tat.“

Eines Tages wurde die Familie in Steinpleis von der Polizei informiert, dass Klaus Reiher vermisst sei. Ob sie da schon vom Abschiedsbrief Kenntnis hatten, ist nicht bekannt.

Der Verbleib von Klaus Reiher war lange ungewiss. Im Frühjahr 1963 meldete sich die Volkspolizei erneut bei der Familie und berichtete, dass Klaus am 14. September 1962 in Westpommern am Strand von Mrzeżyno (Treptower Deep) bei Stettin tot geborgen worden und in Stettin auf dem Friedhof beigesetzt worden sei. Auf einem Foto der Leiche und anhand eines goldenen Trauringes mit den eingravierten Heiratsdaten der Großeltern, den Klaus Reiher mit sich geführt hatte, identifizierten die Eltern ihren Sohn. Im November 1965 erfuhr die Familie dann den genauen Ort der Grablege in Stettin durch ein Mitglied der dortigen Deutschen Gemeinde. Eine Überführung von Stettin nach Steinpleis war seinerzeit zu teuer und die Familie blieb ohne Trauerort zurück.

Autorin:
MePe
Recherche:
MePe
Quellen:
  • ZERV-Akte zu Klaus Reiher: Landesarchiv Berlin, D Rep. 120-02, Nr. 247.
  • Geburtsurkunde Nr. 2057 aus dem Standesamt Zwickau, Privatsammlung Familie Meinel.
  • Sterbeurkunde 26/1964 aus dem Standesamt Trzebiatów (Polen), Privatsammlung Familie Meinel.
  • Abschiedsbrief an die Familie vom 27. August 1962, Privatsammlung Familie Meinel.
  • Brief an die Familie von Mitglied der Deutschen Gemeinde in Polen vom 6. November 1965, Privatsammlung Familie Meinel.
  • Emailverkehr und Gespräche mit Robert Everhartz.
Druckversion
Abkürzungsverzeichnis
Name
Reiher, Klaus Jürgen
Geschlecht
männlich
Geburtsdatum
20. September 1943
Geburtsort
Zwickau
Letzter Wohnort
Steinpleis
Ort des Vorfalls
Ostsee
Leichenfundort
Mrzeżyno, Polen
Todesursache
vermutlich Ertrinken
Datum des Vorfalls
wahrscheinlich in der Nacht vom 27. auf den 28. August 1962
Ergänzendes Datum
14. September 1962
Anmerkung
Leichenfund am 14. September 1962
Todesalter
18
Teilprojekt
Ostsee
Fallgruppe
Todesfälle bei Fluchtversuchen
Personengruppe
Zivilisten / DDR
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