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Biografisches Handbuch

Andreas Stützer

geboren am 08. Februar 1961 | erschossen am 18. März 1980 | Ort des Zwischenfalls: bei Brashten (bulgarisch-griechische Grenze)
BildunterschriftAndreas Stützer
BildquelleBStU
Quelle: BStU
Als Touristen reisten Detlef Heiner und Andreas Stützer am 12. März 1980 nach Bulgarien. Die beiden jungen Handwerker aus Leipzig wollten die DDR verlassen. Die bulgarisch-griechische Grenze hielten sie für leicht überwindbar. Das war ein verhängnisvoller Irrtum.

Ein Bericht des Lagezentrums der MfS-Hauptabteilung VI, zuständig für Grenzkontrollen und Reiseverkehr vom 19. März 1980, meldete den Tod von zwei 19-jährigen DDR-Bürgern. Der Maler Detlef Heiner und der Elektriker Andreas Stützer aus Leipzig seien 150 Meter vor der griechischen Grenze in der Nähe des Dorfes Brashten“, Bezirk Blogoewgrad, erschossen worden. Sie hätten bereits die Stacheldrahtsperre zum Grenzgebiet überwunden, als sie entdeckt und angerufen worden seien. Nach mehreren Warnschüssen, auf die sie nicht reagiert hätten, sei von den bulgarischen Grenzern gezielt geschossen worden.

Grundlage dieser Meldung waren eine telefonische Information und ein Telegramm des bulgarischen Innenministeriums an das MfS. Auch im DDR-Außenministerium (MfAA) gingen am gleichen Tag mehrere entsprechende telegrafische Meldungen aus der DDR-Botschaft in Sofia ein. DDR-Botschafter Manfred Schmidt telegrafierte dem stellvertretenden DDR-Außenminister Herbert Krolikowski nach Berlin, der stellvertretende bulgarische Außenminister Marij Iwanov habe ihm sein Bedauern über den Tod von zwei jungen DDR-Bürgern bei einem Grenzzwischenfall ausgesprochen. Er habe darauf geantwortet, „dass Schuld und Verantwortung bei denen liegt, die Grenzregime der VRB verletzten“.

Andreas Stützer kam am 8. Februar 1961 in Leipzig als Sohn der selbständigen Schneidermeisterin Magdalena Stützer (Jg. 1920) und des Kranelektrikers Heinz Stützer (Jg. 21) zur Welt. Er hatte einen älteren Bruder, nahe Verwandte der Eltern lebten in Westdeutschland und besuchten gelegentlich die Familie in Leipzig. Im Jahr 1967 wurde Andreas Stützer in die 46. Polytechnische Oberschule (POS) in Leipzig eingeschult, Nach einer Schulteilung kam er in die 146. POS, die er mit der 10. Klasse abschloss, um eine Lehre als Elektromonteur zu beginnen. Er gehörte der Leichtathletikabteilung der Betriebssportgruppe (BGS) „Empor“ Lindenau an und errang 1973 im Diskuswerfen den ersten Platz in der Bezirksspartakiade. Wegen einer Rückgratschädigung schied er danach aus der Leichtathletikabteilung aus und wechselte in die Schwimmabteilung der BGS. Im Herbst 1977 begann Andreas Stützer seine Ausbildung im VEB Baukombinat Leipzig und besuchte dessen Betriebsberufsschule „Hermann Matern“ Eilenburg. Hier freundete er sich mit dem gleichaltrigen Lehrling Detlef Heiner an, mit dem er gemeinsam im Lehrlingswohnheim untergebracht war. Das Lehrpersonal beurteilte Andreas Stützer als „ruhig und diszipliniert“, er verhalte sich gegenüber Vorgesetzten „stets höflich und zuvorkommend“. Er gehörte seit 1974 der FDJ an, beteiligte sich aber an Diskussionen zu politischen Fragen im Betrieb nicht. Seine berufspraktische Tätigkeit sei nur befriedigend. Nach dem Lehrabschluss erhielt er in der Vorfertigung Sanitär des VEB Baukombinat Leipzig eine Stelle als Betriebselektriker. Er war somit im gleichen Betrieb wie sein Vater und im gleichen Arbeitskollektiv wie sein Freund Detlef Heiner beschäftigt. In einer späteren Betriebsermittlung des Staatssicherheitsdienstes wurde das Arbeitskollektiv negativ beurteilt, es habe sich in „einem mangelhaften politisch-ideologischen Zustand“ befunden, Verstöße gegen die Arbeitszeit und Disziplin seien vorgefallen. Andreas Stützer sei jedoch wie sein Freund Detlef Heiner „in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht weder positiv noch negativ“ aufgefallen.

Im Sommer 1979 bereiste Andreas Stützer als Tourist Bulgarien und im Winter des gleichen Jahres auch Ungarn. Mit seinem Freund Detlef Heiner beantragte er für das Frühjahr 1980 eine Urlaubsreise nach Bulgarien. Ihnen wurden dafür Visa vom 12. bis 29. März 1980 erteilt. Einen Monat später hätten die beiden Freunde ihren Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee antreten müssen. Sie reisten mit einem durchgehenden Zug über die Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien nach Sofia. Von dort aus reisten sie mit der Bahn nach Südbulgarien. Den Weg in den Grenzraum legten sie vermutlich mit dem Bus oder per Anhalter zurück. In ihren Rucksäcken führte jeder einen Schlafsack, eine Luftmatratze, Kleidungsstücke und Waschzeug mit sich. Das später bei ihren Leichen aufgefundene Bargeld hätte für einen längeren Aufenthalt in Bulgarien nicht ausgereicht. Aus bulgarischen Ermittlungsergebnissen geht ohne Namensangaben hervor, „dass die deutschen Staatsbürger am 15. März 1980 im Hotel ‚Nevrokop‘ in Gotse Delchev übernachteten. Am 16. März wurden sie gegen Mittag im Dorf Satovcha gesichtet, wo sie das Restaurant besuchten und Bier kauften. Kurz vor Mittag versuchten sie in Richtung Dospat im Bereich der Tankstelle außerhalb des Dorfes Satovcha zu trampen. Weitere Daten zur Bewegung der beiden wurden nicht erhoben. Es wird angenommen, dass sie von der Abzweigung nach Kochan bis zur Abzweigung nach Ljubcha nach rechts abbogen und nach dem Betreten der Grenzzone die Taktik anwendeten, sich tagsüber zu verstecken und sich nur nachts fortzubewegen.“

Am 17. März gegen 23:00 Uhr habe eine Grenzstreife durch das Anschlagen ihrer Diensthunde den Verdacht gehegt, es befänden sich Unbefugte im Grenzgebiet. Sie schossen daraufhin Leuchtmunition ab konnten aber Niemanden entdecken. Die bulgarischen Ermittler nahmen später an, dass es sich um die am nächsten Vormittag erschossenen DDR-Bürger gehandelt hat, die sich dann aus dem Grenzgebiet wieder zurückzogen. Den Spuren zufolge hätten sie die Nacht vom 17. zum 18. März auf der Höhe des rechten Ufers der Talsperre Dospat Dere verbracht und am Morgen eine Grenzpatrouille beobachtet, die den Kontrollstreifen vor der Grenze inspizierte. Nachdem sich die Patrouille entfernt hatte, sei der Versuch des Grenzdurchbruchs erfolgt.

Detlef Heiner und Andreas Stützer überwanden etwa gegen 11.00 Uhr vormittags am 18. März 1980 den zur Vorsicherung errichteten Stacheldrahtzaun. Nach Angaben der bulgarischen Untersuchungsführer befanden sie sich noch etwa 150 Meter vor der griechischen Grenze, als sie entdeckt und angerufen worden seien. Nachdem sie auch auf Warnschüsse in die Luft nicht reagiert hätten und in Richtung der Grenze weitergelaufen seien, sei das gezielte Feuer auf sie eröffnete worden. Die bulgarische Grenztruppe verortete den Zwischenfall nahe der Grenzsäule Nr. 181. Wie sich später durch eine Nachobduktion der Leichen in Dresden herausstellte, ist diese Version der Todesumstände unzutreffend. Die sterblichen Überreste von Detlef Heiner und Andreas Stützer wurden noch am 18. März zur Obduktion in das Militärmedizinische Institut nach Sofia gebracht.

Nach dem Eingang der Todesmitteilung durch die DDR-Botschaft informierte das DDR-Außenministerium umgehend die Abteilung Inneres der Stadtverwaltung Leipzig, „Daß Heiner und Stützer am 18.8.80 in der VRB verstorben“ seien und bat um Überprüfung der aus Sofia mitgeteilten Personalien. Die Angehörigen seien zu befragen, ob sie eine Einäscherung in Sofia oder eine Sargüberführung wünschten und zur Übernahme der anfallenden Kosten bereit seien. Frau Kurzweg aus der Abteilung bestätigte die Personalien und teilte mit, der Vater von Andreas Stützer habe die Frage gestellt, „ob die Jungen erschossen worden seien“. Zwei Tage später erfuhr Lothar Heiner durch einen Anruf bei der DDR-Botschaft in Sofia andeutungsweise, dass sein Sohn bei einem Fluchtversuch ums Leben kam. Am 26. März 1980 meldete die für Telefonüberwachung zuständige MfS-Abteilung, ein Schwager von Detlef Heiner habe versucht, über die Stadtbezirksleitung Mitte und den Rat der Stadt, Abteilung Inneres, „näheres zu erfahren“. Es sei deswegen anzunehmen, „daß die Familien bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen offiziellen Bescheid über die Umstände des Todes ihrer Söhne haben.“

Der Leipziger MfS-Chef Generalmajor Manfred Hummitzsch ordnete am 27. März 1980 an, dass nach dem Eintreffen der beiden Särge auf dem Flugplatz Berlin Schönefeld „sämtliche persönliche Sachen und Dokumente der Verstorbenen sowie die von bulgarischer Seite im Zusammenhang mit dem Vorkommnis gefertigten Dokumentationen sichergestellt“ werden. Den Angehörigen seien zu einem späteren Zeitpunkt bei einer Aussprache in der Abteilung Inneres nur solche persönlichen Gegenstände ihrer Söhne zu übergeben, „die keinen Aufschluß auf die Schußverletzungen geben“.

Entgegen gegenseitiger Vereinbarungen mit der DDR und trotz mehrfacher Nachfragen der DDR-Botschaft verweigerte die bulgarische Militärstaatsanwaltschaft die Übergabe der ihr vorliegenden Obduktionsprotokolle. Da in der DDR für eine Beisetzung nach unnatürlichen Todesfällen ein solches Dokument aber unverzichtbar war, erfolgte nach der Leichenüberführung eine Nachobduktion. Aus einem MfS-Aktenvermerk über die Untersuchung der beiden Leichen am Institut für Gerichtliche Medizin und Kriminalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig geht hervor, dass bei der Obduktion am 29. März 1980 Prof. Dr. Wolfgang Dürwald und Dr. Hofmann, Sektionsgehilfe Dieck, Staatsanwalt Sitz und MfS-Hauptman Hacker von der Leipziger MfS-Untersuchungsabteilung zugegen waren. Hauptmann Hacker vereinbarte mit Professor Dürwald nach der Leichenschau, dass die Leichen in Leinentücher eingenäht werden, da zu den Kühlzellen der Gerichtsmedizin ein größerer Personenkreis Zugang hatte. Diese Abschirmung erklärt sich aus dem Obduktionsergebnis.

Die Urkunde der “Gerichtliche Leichenschau”, unterzeichnet von Prof. Dr. sc. med. Dürwald und Dr. med. Hofmann enthält die Angaben, daß Andreas Stützer eine Einschussverletzung im linken vorderen Schulterbereich mit Ausschuss im rechten Schulterblattbereich und einen Einschuss in Scheitelhöhe mit Ausschuss am Hinterhaupt erlitt. Er wurde demnach nicht von Hinten auf der Flucht, sondern von vorne erschossen. Bei Detlef Heiner wurden vier Schusseinwirkungen festgestellt. Ein Einschuss in die linke Achselhöhle mit Ausschuss unter der rechten Achselhöhle könnte darauf hindeuten, dass er bereits die Hände gehoben hatte, als er seitlich getroffen wurde. Demnach war der vom bulgarischen Innenministerium behauptete Hergang unzutreffend, dass die beiden Flüchtlinge kurz vor der griechischen Grenze nach Anrufen und Warnschüssen auf der Flucht erschossen worden seien.

MfS-Hauptmann Hacker notierte nach der Leichenschau: „Nach Ansicht von Prof. Dürwald und Dr. Hofmann ist eine Aufbahrung beider Leichen im Rahmen von Bestattungsfeierlichkeiten nicht empfehlenswert.“ Die Leipziger MfS-Verwaltung entschied daraufhin, dass den Eltern der beiden Getöteten bei einer Unterredung in der Abteilung Inneres am 2. April 1980 mitgeteilt werden solle, dass sie ihre Söhne nicht noch einmal sehen könnten, da „der Zeitpunkt des Todeseintritts schon relativ weit zurückliegt“. Gegebenenfalls sei „auf die Krematoriumsordnung zu verweisen, die eine Aufbahrung von Leichen beim Vorliegen bestimmter Bedingungen verbietet“ Es solle auf die Eltern eingewirkt werden, dass in den Todesanzeigen kein Vorwurf gegen die bulgarischen Sicherheitsorgane erhoben werde. Auch solle das Wort „Staatsgrenze“ seitens der Abteilung Inneres nicht erwähnt werden, sondern von einem Eindringen in militärisches Sperrgebiet gesprochen werden.

Die offizielle Unterrichtung der Familien Heiner und Stützer durch die Abteilung Inneres der Stadt Leipzig erfolgte am 2. April 1980. Einer der Väter erklärte, nachdem ihm bei der Übergabe von Habseligkeiten seines Sohnes mitgeteilt wurde, dass aus Bulgarien keine Kleidungsstücke übersandt wurden, „da kriegen wir wohl auch nicht seine Kutte wieder, die hat wohl zu viele Löcher?“ Das MfS ermittelte gegen die beiden Familien und schätzte sie als politisch unbedenklich ein, „prowestliche Einstellungen“ seien nicht festzustellen. Zur Familie Stützer wurde angemerkt, dass sie sich nicht an Solidaritätssammlungen beteilige und an Feiertagen keinen Fahnenschmuck am Haus anbringe. Es bestünden „aktive BRD-Kontakte“ der Familie Stützer zu Westverwandten.

Eine “Sicherungskonzeption” der Leipziger MfS-Untersuchungsabteilung enthält in Ausführung einer zentralen Weisung aus Berlin die Anordnung, es seien “politisch-operative Sicherungsmaßnahmen durchzuführen”, um “jegliche Art von Handlungen Familienangehöriger, Verwandter und Bekannter aufzuklären und vorbeugend zu verhindern, die das Ansehen der DDR oder der Volksrepublik Bulgarien (VRB) schädigen bzw. die brüderlichen Beziehungen beider Staaten belasten könnten”. Es folgt ein mehrseitiger Maßnahmenkatalog, u.a. sei bei der DEWAG [Deutsche Werbe- und Anzeigengesellschaft, im SED-Besitz] und der Bezirkspresse abzusichern, “daß im Zusammenhang mit beiden Todesfällen keine Todesanzeigen provokatorischen bzw. diskriminierenden Inhalts veröffentlicht werden”. Es sollten zuverlässige Redner im Betrieb gesucht werden und die Trauerfeierlichkeiten durch MfS-Beobachter überwacht werden. An der Beisetzung sollten aus dem VEB Baukombinat Leipzig möglichst “politisch zuverlässige Werktätige (IM)” teilnehmen. Das MfS koordinierte dieses “Vorgehen bei der Beerdigung der ehemaligen BKL-Angehörigen Stützer und Heiner” mit dem SED-Parteisekretär des Baukombinats Dreisiedler und hielt ihn dazu an, die “laufenden vorbeugenden Handlungen konspirativ zu realisieren.”

DDR-Konsul Anton Richter fragte am 3. Juni 1980 in Sofia nochmals bei der bulgarischen Militärstaatsanwaltschaft nach den Obduktionsprotokollen und dem militärischen Untersuchungsbericht zu den Todesumständen von Detlef Heiner und Andreas Stützer. Oberst Wassilev habe nochmals betont, „daß wir nichts erhalten könnten“. Richter bat um Mitteilung, ob er diesbezüglich noch etwas unternehmen solle. Gegebenenfalls könnten die notwendigen Dokumente auf dem Weg der Direktbeziehungen zwischen den Untersuchungsorganen bzw. Generalstaatsanwaltschaften angefordert werden. Ein solcher Versuch, die bulgarischen Dokumente doch noch zu erhalten, unterblieb jedoch. Am 13. Juni 1980 übermittelte das bulgarische Außenministerium dem DDR-Außenministerium eine Note, in der als endgültiges Ergebnis der Untersuchung des Grenzzwischenfalls mitgeteilt wurde, dass „die Angehörigen der Grenzabteilung dem Gesetz nach gehandelt“ hätten und „keine strafmäßige Verantwortung für den Tod beider Bürger“ trügen.


Biografie von Andreas Stützer, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/273-andreas-stuetzer/, Letzter Zugriff: 24.04.2024