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Biografisches Handbuch

Volker Mehlis

geboren am 14. Dezember 1964 in Thale | gestorben durch Suizid am 24. Mai 1980 | Ort des Vorfalls: Jugendhaus „Frohe Zukunft“, Jugendstrafvollzug Halle (Sachsen-Anhalt)
BildunterschriftVolker Mehlis
BildquelleFamilie Mehlis
Quelle: Familie Mehlis
Der 15-jährige Schüler Volker Mehlis aus der 9. Klasse der POS „Juri Gagarin“ in Thale wurde wegen „ungesetzlichem Grenzübertritt“ vom Kreisgericht Quedlinburg zu zwölf Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Volker Mehlis hatte den Fluchtversuch mit seinem 16-jährigen Freund Thomas Kuhne unternommen, der eine Freiheitsstrafe von 16 Monaten erhielt. Volker Mehlis erhängte sich am 24. Mai 1980 an seinen Schnürsenkeln in der Jugendstrafvollzugsanstalt Halle.

Volker Mehlis kam in einem christlichen Elternhaus als Sohn von Helga und Bernhard Mehlis zur Welt. Seine Mutter arbeitete als Pförtnerin, sein Vater als Dreher. Infolge einer schweren Hirnhautentzündung war er körperlich zart gebaut. In der Schule hänselten ihn Gleichaltrige wegen seines kleinen Körperwuchses und weil er Brillenträger war und bei Aufregung ins Stottern geriet. Er galt als Einzelgänger. Seine schulischen Leistungen waren überdurchschnittlich gut. In der Freizeit sammelte er Briefmarken und Steine. Thomas Kuhne, ein Mitschüler seiner Schwester Katharina, wurde sein bester Freund. Kuhne hatte Probleme in seinem Elternhaus und fürchtete vermutlich eine Heimeinweisung. Deswegen wollte er zu einem Onkel in die Bundesrepublik. Volker Mehlis schloss sich dem Freund an. Am 12. Februar 1980 scheiterte ein erster Fluchtversuch auf den Weg in das Grenzgebiet bei Ilsenburg (Harz). Die beiden Jungen wurden in Wernigerode festgenommen und nach einer Belehrung durch die Volkspolizei den Eltern übergeben. Das Volkspolizeikreisamt hatte sich zuvor mit dem MfS und der Staatsanwaltschaft über dieses Verfahren abgestimmt. Am 15. Februar 1980 versuchten es die Freunde erneut. Sie schlossen sich in einer Toilette des D 456 nach Frankfurt am Main ein und wurden am Grenzübergang Gerstungen entdeckt und festgenommen. Das Kreisgericht Quedlinburg verhängte gegen Volker Mehlis eine Haftstrafe von einem Jahr, gegen Thomas Kuhne eine Haftstrafe von 16 Monaten. Volker Mehlis kam zur Haftverbüßung in das Jugendhaus „Frohe Zukunft“ in Halle. Dort kam es zu Hänseleien durch Mitgefangene, über die sich Volker Mehlis bei einem Aufseher beklagte. Das hatte, nach Erkenntnissen des MfS, weitere Belästigungen und Drohungen durch Mitgefangene zur Folge. Volker Mehlis verzweifelte und verlor jede Zuversicht. Er erhängte sich am 24. Mai 1980 in der Jugendstrafvollzugsanstalt.

Nachdem Volker Mehlis aus dem Leben geschieden war, überwachte der Staatssicherheitsdienst seine Eltern, um eine „Öffentlichkeitswirksamkeit“ des Todesfalls zu verhindern. Die Todesanzeige der Familie erschien am 30. Mai 1980 in der Freiheit. Organ der Bezirksleitung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Der von den Eltern eingereichte Text durfte jedoch nicht wie gewünscht erscheinen. Statt des Hinweises, Volker sei „aus dem Leben gegangen“, musste eingefügt werden, „er verstarb am 24. Mai“.

Pastorin Ursula Meckel aus Thale verschickte nach der Andacht den nachstehenden Brief, den sie auf Durchschlagpapier vervielfältigte, an 90 Freunde und Bekannte aus Kirchenkreisen:

„Unsere Gemeinden in Thale sind betroffen über ein Geschehen, das wir weitersagen müssen. Seit September 1978 besuchten unter anderem zwei Jungen einen Konfirmandenkurs: Der jetzt sechzehnjährige Thomas Kuhne und Volker Mehlis. Beide Jungen waren eng miteinander befreundet. Thomas hat ein Elternhaus, in dem er kaum Zuwendung finden konnte, weil er ein voreheliches Kind war. Ihm drohte die Einweisung in ein Heim bzw. in den Jugendwerkhof. In den Februarferien versuchten die beiden, die DDR zu verlassen und wurden deshalb inhaftiert. Thomas wurde zu sechzehn Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Volker zu zwölf Monaten. Am Freitag, dem 23. Mai erkundigte sich Frau Mehlis nach dem Verbleib der Kinder und erhielt die Auskunft, beide seien in Dessau. Am Pfingstsonnabend erschienen bei Familie Mehlis zwei Herren vom Strafvollzug in Halle und teilten der Familie mit, daß Volker sich nach dem Mittagessen in Halle erhängt hat. Am 30. Mai, zwei Tage vor dem vorgesehenen Konfirmationstermin, wo auch Volkers Schwester konfirmiert wurde, haben wir den Jungen beerdigt. Der Sarg war verschlossen. Aus der Klasse (9.) durfte niemand an der Beerdigung teilnehmen, ein Kranz (von einer Mutter aus dem Elternaktiv vorgeschlagen) wurde verboten.

Schon vor 100 Jahren haben Jungen versucht, das Elternhaus zu verlassen, wollten auf ein Schiff nach Amerika o. ä. Damals aber hat sie niemand zu Staatsverbrechern gestempelt und entsprechend behandelt. Wir sind betroffen darüber, wie bei uns Kinder kriminalisiert werden und einer Situation ausgesetzt, der sie nicht gewachsen sein können. Volker mit seinen erst fünfzehn Jahren war noch ein Kind und dem Strafvollzug unter Erwachsenen nicht gewachsen. In Halle war er erst seit Dienstag, dem 20. Mai. Am Freitag wurde beobachtet, daß er weinte, aber das sei ja üblich und nichts Besonderes. Weil wir der Meinung sind, uns durch Schweigen mitschuldig zu machen, hängen in der St. Petri-Kirche in Thale seit Beginn der Woche Plakate mit beiliegendem Text aus:

Lied von Gerhard Schöne:

Fällt ein Baum zu Boden
ist es nicht schlimm,
Sagen die Großen,
Bäume gibt es viele.
Fällt aus dem Nest ein Vogel,
ist es nicht schlimm,
Sagen die Großen,
Vögel gibt es viele.
Weint ein Kind am Abend,
ist es nicht schlimm,
Sagen die Großen,
Tränen gibt es viele.
Zerkratzt ein Auto,
dann ist es schlimm,
Sagen die Großen,
Autos muß man pflegen.
Geht ein Kind verloren
in einem Kind,
Merken es nicht viele,
Wohl weil sie groß sind.
Geht ein Kind verloren
in einem Kind,
trauern die Bäume,
weinen die Vögel.

Unsere Gemeinden trauern um den Konfirmanden Volker Mehlis, geb. am 14.12.1964 in Thale. Er ist am 24. Mai 1980 in Halle in einer Strafvollzugseinrichtung aus dem Leben gegangen. Er war in Haft genommen und zu zwölf Monaten Freiheitsentzug verurteilt worden, weil er versucht hatte, die DDR zu verlassen. Den Gemeinden wird dieses mitgeteilt, um rechte Fürbitte für die Hinterbliebenen halten und Beistand leisten zu können.“

Während der IX. Synode der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, die vom 13. bis 15. Juni 1980 in Naumburg stattfand, informierte Propst Bernhard Brinksmeier die Teilnehmer der Versammlung ausführlich über den Tod von Volker Mehlis. Wenig später gelangte der Rundbrief aus Thale durch eine Gemeindeschwester der Paul-Gerhardt-Gemeinde in Ost-Berlin nach West-Berlin. Die „Internationale Gesellschaft für Menschenrechte“ informierte dann die westdeutsche Öffentlichkeit über den Todesfall. Karl-Wilhelm Fricke berichtete am 27. Juni 1980 im Deutschlandfunk über den Suizid des jugendlichen Strafgefangenen in Halle. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung dokumentierte den Rundbrief aus Thale in ihrer Ausgabe vom 1. Juli 1980. Auch die Frankfurter Rundschau, Die Zeit, die Morgenpost und Austria Presse Agentur brachten Artikel über das tragische Ereignis. Die Berichterstattung der westlichen Medien löste weitere intensive Nachforschungen des MfS aus. Der Staatssicherheitsdienst fand heraus, dass Pastorin Meckel die „Initiatorin des Rundbriefes“ war. Das MfS beobachtete sie und ihren Kollegen Erich Schweidler schon geraume Zeit in einem Überwachungsvorgang „OV Kathedrale“. Ein Inoffizieller Mitarbeiter mit Decknamen „Rübsam“ sollte Pastorin Meckel aufsuchen und herausfinden, wie der Rundbrief in die westdeutschen Medien gelangt war.

Das MfS informierte die durch westliche Presseberichte beunruhigte SED-Führung über die Vorgänge in Thale. Die Trauerfeier zur Beisetzung von Volker Mehlis habe am 30. Mai 1980 der evangelische Pfarrer Erich Schweidler (49) abgehalten. „Pfarrer Schweidler trat bereits in der Vergangenheit im Zusammenhang mit der Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz feindlich negativ in Erscheinung“. Schweidler habe zu den Gründen des Todes von Volker Mehlis in seiner Trauerrede erklärt, der Jugendliche sei „an der gesellschaftlichen Umwelt gescheitert, da auch im Sozialismus die Seele des Menschen beschädigt werden kann durch Enttäuschungen, die sich nicht vermeiden lassen, durch Kränkungen, die nicht zu überwinden sind, durch Hunger, der nicht vorübergeht, durch Menschen, die ohne Lebenskraft scheitern, sich dauernden Schaden zuziehen oder seelisch verkümmern“. Schweidler habe seine Trauerrede mit den Worten beendet: „Herr, wir bitten dich, vergib uns, was wir an deinem Sohn versäumt haben. Wir halten Fürbitte für den Staatsanwalt, welcher am 25.4.1980 die Anklage gegen Volker vertreten hat. Wir bitten dich für die Richter, die das Strafmaß bestimmt und das Unrecht gesprochen haben. Sie müssen damit leben, daß sie Volker auf eine Straße geschickt haben, von der es keine Wiederkehr gibt. Wissen Richter eigentlich, daß Recht ohne Gnade zu Unrecht ausartet?“

Mitarbeiter der Kirchengemeinde brachten nach der Trauerfeier in der St. Petri-Kirche in Thale Plakate mit Informationen über die Verurteilung und den Tod von Volker Mehlis an, auf denen um Fürbitte und Beistand für die Hinterbliebenen gebeten wurde. Das MfS registrierte „ein Plakat (1,50 x 1,50 m auf einem Holzrahmen mit weißem Papier und schwarzen Druckbuchstaben)“. Den Wortlaut schrieb ein Staatssicherheitsmann folgendermaßen ab: „Unsere Gemeinden trauern um den Konfirmanden Volker Mehlis. Er ist am 24.5.1980 in Halle in einer Strafvollzugsanstalt aus dem Leben gegangen. Er war in Haft genommen und zu 12 Monaten Freiheitsentzug verurteilt worden, weil er versucht hatte, die DDR zu verlassen. Den Gemeinden wird dieses mitgeteilt, um rechte Fürbitte für die Hinterbliebenen halten und Beistand leisten zu können.“

Das MfS versuchte „über den Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises Quedlinburg, Gen. Hille, eine Einschränkung der negativen Öffentlichkeitswirksamkeit“ der Plakate zu erreichen. Auch in Gesprächen mit Propst Brinksmeier und Bischof Werner Krusche, Magdeburg, wollten MfS-Leute eine weitere „Öffentlichkeitswirksamkeit“ des Vorfalls unterbinden. Bischof Krusche habe einem MfS-Bericht zufolge angeblich zugesagt, „daß die Angelegenheit Mehlis auf der IX. Synode der Evangelischen Kirchenprovinz Sachsen vom 13.–15. Juni 1980 in Naumburg nicht zur Sprache kommen werde“. Dies war jedoch nicht der Fall. Propst Bernhard Brinksmeier informierte die Versammelten auf der Synode ausführlich über den Suizid von Volker Mehlis. Die Erklärung Brinksmeiers wurde auch der Kirchenleitung bei ihrer Tagung am 27. Juni 1980 zur Kenntnis gebracht. Daraufhin beschloss diese, in einem Bischofswort auf die Zusammenhänge der Selbsttötung zu reagieren und diese Mitteilung mit einer Sperrfrist für die Veröffentlichung in der Kirchenprovinz Sachsen zu verbreiten. Die Bemühungen der staatlichen Stellen, den tragischen Tod des 15-Jährigen vor der Öffentlichkeit abzuschirmen war damit gescheitert. Das MfS kam nun zu dem Befund, dass in dem Schreiben von Bischof Krusche an die Gemeinden der Kirchenprovinz Sachsen, „die feindlich negative Position der Kirchenleitung zum Ausdruck kommt“. Auch in kirchlichen Kreisen der Bundesrepublik kam es zu weiteren Veröffentlichungen. So berichtete die Evangelische Verantwortung, Meinungen und Informationen aus dem evangelischen Arbeitskreis in der CDU, Heft 8–9/1980, ausführlich über die Hintergründe des Suizids von Volker Mehlis und dokumentierte das Rundschreiben aus Thale.

Pastorin Ursula Meckel teilte als Zeitzeugin mit: „In dem Rundbrief mit dem ich 1980 über den Tod von Volker Mehlis informiert hatte, steht der Satz ‚Volker mit seinen erst fünfzehn Jahren war noch ein Kind und dem Strafvollzug unter Erwachsenen nicht gewachsen‘. Von den Eltern hatte ich erfahren, er sei unter ‚Kriminellen‘. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich zwar, dass es in der DDR Jugendwerkhöfe gab, aber nichts von Jugendgefängnissen. Volker war zuletzt in Halle in einer Jugendvollzugsanstalt, aber nicht unter Erwachsenen.“


Biografie von Volker Mehlis, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/218-volker-mehlis/, Letzter Zugriff: 20.04.2024