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Biografisches Handbuch

Peter Stegemann

geboren am 9. Dezember 1940 in Zwickau | tödlich verletzt durch Splitterminen am 22. Juli 1978 | Ort des Vorfalls: 1000 Meter westlich von Heinersgrün, Kreis Oelsnitz (Sachsen)
BildunterschriftPeter Stegemann
BildquelleBStU
Quelle: BStU
Mit der Absicht die DDR zu verlassen, begab sich Peter Stegemann in der Nacht vom 21. zum 22. Juli 1978 in den Grenzsicherungsabschnitt nahe Heinersgrün, Sachsen. Am Grenzzaun löste er eine Splittermine (SM-70) aus. In den frühen Morgenstunden des 22. Juli 1978 erlag er seinen Verletzungen.

Peter Johannes Stegemann aus Beiersdorf verlor im frühen Alter von sieben Jahren seine Mutter. Mit 13 Jahren erlitt er eine Poliomyelitis (Kinderlähmung), deren Folgen er zeitlebens zu tragen hatte. Im Anschluss an seine achtjährige Schulzeit absolvierte Peter Stegemann eine Lehre als Fotograf. Ab November 1962 leistete er in einem motorisierten Schützenregiment den 18-monatigen Wehrdienst bei der NVA. Seit 1973 war er Mitglied des FDGB und der DSF. In Crimmitschau führte er ein eigenes Fotogeschäft, das er jedoch wegen gesundheitlicher Probleme aufgeben musste. Zuletzt arbeitete er als Transportarbeiter beim VEB Kraftfahrzeugwerk in Werdau. Peter Stegemann lebte zusammen mit seiner Frau in Beiersdorf und kümmerte sich liebevoll um seine beiden Kinder aus erster Ehe.

Als früherer Befürworter der sozialistischen Gesellschaft verspürte Peter Stegemann offenbar eine wachsende Diskrepanz zwischen geltender Gesellschaftsordnung und eigenen Idealen. Seine kritischen Gedanken über den Sozialismus schrieb er in mehreren Briefen nieder, die er dem Staatssicherheitsdienst zusandte. Einen letzten Beschwerdebrief an die Kreisdienststelle der Staatssicherheit in Werdau verfasste Peter Stegemann wenige Tage vor seinem Fluchtversuch. Darin stellte er dem MfS ein Ultimatum zur Stellungnahme bis zum 21. Juli 1978, 18.00 Uhr: „Dadurch sollt Ihr Gelegenheit erhalten oder diese Euch selbst schaffen, Euch mir gegenüber auf anständige saubere und sachliche Art und Weise realitätsgemäß zu erklären. Sollte dieser Zeitraum von Euch ungenutzt vergehen, wäre ich nicht mehr in der Lage, mich mit und für unsere sozialistische Gesellschaft zu identifizieren.“ Auf dieses Schreiben erhielt Peter Stegemann keine Antwort.

In den späten Abendstunden des 21. Juli 1978 verabschiedete er sich von seiner Frau, ohne ihr zu sagen, was er vorhatte. Mit seinem Moped machte er sich auf den Weg zur Staatsgrenze. Nachdem er 45 Kilometer zurückgelegt hatte, ließ er das Moped zurück und erreichte nach weiteren zehn Kilometern zu Fuß das Sperrgebiet. Bei Heinersgrün gelangte er an ein Tor des Grenzsignalzaunes, das er übersteigen konnte, ohne die Signaleinrichtung auszulösen. Peter Stegemann überwand den Sechs-Meter-Kontrollstreifen und den Kfz-Sperrgraben. Nach Erreichen des Grenzzauns, bog er zwei untere Streckmetallfelder des Zauns auseinander. Durch diese Öffnung ließen sich die mitgeführte Aktentasche, eine Thermoskanne und ein Sitzkissen auf die andere Seite des vorderen Sperrelements schieben. Beim Versuch den Zaun zu überwinden, löste Stegemann gegen 3.05 Uhr fünf Splitterminen (SM-70) aus, die ihn schwer verletzten. Um die obere Mine war sein Gürtel geschlungen, im mittleren Feld hing ein Handschuh.

Ein Untersuchungsbericht des Grenzregiments 10 „über die Festnahme DDR–BRD 1/1 mit Auslösung Sperranlage 501 mit tödlichem Ausgang“ hielt folgenden zeitlichen Ablauf nach der Minenauslösung gegen 3.05 Uhr fest: „Die Streife entdeckte den Verletzten um 3.12 Uhr, gegen 3.43 Uhr erfolgte nach Abschaltung der Sperranlage der Abtransport des Verletzten durch den Bergetrupp.“ Der Kommandeur des Bergetrupps stellte bei dem Schwerverletzten noch einen Pulsschlag fest.

Der damals als „operativer“ Grenztruppenoffizier im Stab des Standortes Posseck eingesetzte Willi P. erhielt den Befehl, den Schwerverletzten beim Transport im Sanitätswagen zum Krankenhaus Oelsnitz zu bewachen. Der dort diensthabende Arzt stellte nach der Einlieferung und einem vergeblichen Reanimationsversuch um 4.25 Uhr Stegemanns klinischen Tod fest. Bei der Leichenschau zählte der Arzt insgesamt 45 Verletzungen am Körper des Toten. Die im Leichenhaus anwesenden MfS-Leute nahmen sämtliche Unterlagen zum Todesfall Peter Stegemann an sich. Eine Eintragung der Einlieferung der Leiche in die Krankenhausakten erfolgte nicht.

Nachdem ihr Mann das ganze Wochenende nicht nach Hause kam, gab Stegemanns Ehefrau am Montag eine Vermisstenanzeige bei der Kriminalpolizei in Werdau auf. Am Dienstag erhielt sie eine Vorladung zur Kriminalpolizei, die allgemeine Fragen nach ihrem Mann stellte. Noch immer im Unklaren holten sie Kriminalpolizisten am Mittwoch zu Hause ab und brachten sie zum Bezirksstaatsanwalt. Dieser teilte ihr mit, nach Eindringen in militärisches Sperrgebiet habe sich ihr Mann durch eigenes Verschulden lebensgefährlich verletzt und sei verstorben. Einzelheiten erfuhr sie weiterhin nicht. Als sie ihren Mann noch einmal im Sarg sehen durfte, fiel ihr eine frische Narbe an der Stirn auf. Das MfS drängte die Ehefrau zum Stillschweigen und forderte sie auf, keine weiteren Nachforschungen zum Tod ihres Mannes anzustellen. Sie durfte den Totenschein mit dem Vermerk „traumatischer Schock“ lesen, erhielt ihn aber nicht ausgehändigt. Des Weiteren drängten die MfS-Mitarbeiter auf eine schnellstmögliche Feuerbestattung sowie eine Beisetzung in engstem Familienkreis. Eine Verfügung der MfS-Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt vom 27. Juli 1978 ordnete die Durchsuchung von Stegemanns Asche mit Magneten an, um die hierbei festgestellten Reste von Minensplittern zu entnehmen. Auch in die Bestattungszeremonie griff das MfS reglementierend ein: Bei der Urnenbeisetzung auf dem Zwickauer Friedhof sprach ein weltlicher Redner, der die Todesumstände Peter Stegemanns nicht erwähnen durfte.

Das MfS in Karl-Marx-Stadt beendete am 13. September 1978 seine Ermittlungen zum Fluchtversuch von Peter Stegemann und erklärte sich sein Handeln als Folge einer psychischen Erkrankung, einer paranoiden Schizophrenie, die inhaltliche Denkstörungen und Wahnvorstellungen eingeschlossen habe. Die geheimen Lage- und Stimmungsberichte aus dem Grenzregiment 10 Plauen belegen, dass der Tod Peter Stegemanns in der gesamten Einheit Diskussionen auslöste. Mehrere Grenzer äußerten sich kritisch zu dem Vorfall. Andreas B. (Jg. 1955), der von der 12. Grenzkompanie am Unglückstag als Sicherungsposten eingesetzt war, litt in den folgenden Tagen an Schlafstörungen, sodass ihm der Regimentsarzt Beruhigungsmittel verschrieb. B. meldete sich eine Woche nach Stegemanns Tod bei seinem Kompaniechef und erklärte, dass er seit dem 23. Juli 1978 eine andere Einstellung zur Schusswaffe habe und die Waffe nicht mehr anwenden werde. Wenn ihm befohlen würde, auf einen Flüchtling zu schießen, werde er daneben schießen, da er nicht zum Mörder werden wolle. Andreas B. schrieb in einer Stellungnahme, die Schreie des Verletzten hätten sich ihm unvergesslich ins Gedächtnis eingebrannt. Daraufhin wurde er aus dem Grenzdienst abgezogen. Die Stasi-Mitarbeiter in der Einheit zeichneten aber auch die folgenden Äußerungen eines Majors aus dem Stab auf: „Es ist doch Blödsinn, solche Leute, die verletzt wurden, nach Oelsnitz ins Krankenhaus zu schaffen. So eine kleine Stadt in der Nähe der Grenze ist doch eine Aufforderung zur Diskussion. Solche Leute müßten ins Hinterland geschafft werden, ohne Kommentar. Wir machen doch damit nur politischen Schaden. Wenn einer so verletzt ist wie der, dann spielt es doch auch keine Rolle, ob er eine halbe Stunde später stirbt oder nicht.“

Die in den 90er Jahren eingeleiteten Ermittlungen erbrachten Beweise für eine gezielte Vertuschung der Todesursache durch den Staatssicherheitsdienst. So ließen die bei der Leichenbegutachtung im Krankenhaus Oelsnitz anwesenden Stasi-Offiziere in dem von ihnen beschlagnahmten Fragebogen zur Todesursache unter „Zustandekommen des Schadens“ den Vermerk „unbekannt“ eintragen. Das Landgericht Frankfurt an der Oder verurteilte im März 2000 den für die Installierung der Splitterminen verantwortlichen Chef der Verwaltung Pionierwesen des Ministeriums für Nationale Verteidigung wegen Beihilfe zum Totschlag zu einer Bewährungsstrafe von neun Monaten.


Biografie von Peter Stegemann, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/214-peter-stegemann/, Letzter Zugriff: 20.04.2024