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Biografisches Handbuch

André Rößler

geboren am 4. Dezember 1956 in Lichtenstein | getötet durch Splitterminen am 5. September 1976 | Ort des Vorfalls: nahe Teistungen (Thüringen)
BildunterschriftAndré Rößler
BildquelleGrenzlandmuseum Eichsfeld e. V.
Quelle: Grenzlandmuseum Eichsfeld e. V.
Seit dem Frühjahr 1976 diente André Rößler als Rekrut im Grundwehrdienst bei einem Motorisierten Schützenregiment der NVA. Rößler nutze einen Ausgang zur Flucht. Er schlug sich bis zur innerdeutschen Grenze bei Teistungen im Eichsfeld durch. Dort löste er zwei Minen aus. Noch auf dem Weg ins Krankenhaus starb er an den Folgen seiner Verletzungen.

André Rößler wuchs im erzgebirgischen Hohndorf bei Stollberg auf. Seine Eltern waren geschieden, er lebte bis Mai 1976 bei seiner Mutter und seinem Stiefvater. Zum leiblichen Vater hatte er keinen Kontakt. Vor Abschluss der 9. Klasse verließ er vorzeitig die Schule und begann eine Lehre als Textilfacharbeiter, die er abbrach. Zuletzt war er als Transportmitarbeiter in einem Steinkohlemahlwerk beschäftigt.

Als er im Frühjahr 1976 zur NVA eingezogen werden sollte, befürchtete er dort „kaputtzugehen“. Am 4. Mai trat er seinen Grundwehrdienst im Motorisierten Schützenregiment 22 Mühlhausen (4. Motorisierte Schützendivision) an. Am 4. September hatte der 19-Jährige Ausgang. Um 14.30 Uhr verließ er die Kaserne in Mühlhausen und fuhr nach Leinefelde. In dieser Kleinstadt, die nicht mehr zu seinem erlaubten Ausgangsbereich gehörte, hielt er sich zunächst einige Stunden in der HO-Gaststätte „Deutsches Haus“ auf, wo er ein gebratenes Hähnchen aß und mehrere Glas Bier trank. Zeitweise befand sich ein Unteroffizier aus seiner Einheit, der sich ebenfalls unerlaubt in Leinefelde aufhielt, in Rößlers Gesellschaft. Rößler fragte zwei Gäste, mit denen er ins Gespräch kam, nach dem Weg ins 17 Kilometer entfernte Teistungen. Gegen 19 Uhr verließ er das Wirtshaus und erreichte auf unbekanntem Wege die im Grenzgebiet liegende Ortschaft. Gegen 22.40 Uhr wurde an einem Grenzsignalzaun optischer und akustischer Alarm ausgelöst. Etwa 50 Minuten später explodierten zwei Splitterminen der Anlage G 501 (Selbstschussautomaten SM-70). Grenzsoldaten fanden den Schwerverletzten ca. 350 Meter östlich der Grenzübergangsstelle Teistungen. Seine Bergung wurde gegen 0.35 Uhr abgeschlossen. André Rößler starb während der Fahrt in das Kreiskrankenhaus Worbis. Der Untersuchungsbericht des Staatssicherheitsdienstes erwähnte als Todesursache großflächige Brustverletzungen, innere Verletzungen und die Zerreißung der Hauptschlagader im Bereich des rechten Oberschenkels.

Die versuchte Fahnenflucht und der Tod Rößlers wurden sowohl in seiner NVA-Einheit als auch in seinem Wohnort Hohndorf bekannt. Rößlers Eltern waren durch den Politstellvertreter des Wehrkreiskommandos Stollberg über die Fahnenflucht und den Tod ihres Sohnes an der Grenze unterrichtet worden. Das geschah, wie das MfS bemängelte, „entgegen allen operativen Gepflogenheiten“. Die MfS-Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt hielt es für „nicht vertretbar, bei derartigen Vorfällen die in Frage kommenden Verwandten sofort und umfassend vom tatsächlichen Sachverhalt zu informieren“. Zunächst müsse geprüft werden, „ob nicht mögliche Legendierungen gefunden und in Anwendung gebracht werden können, um feindlichen Ansichten vorbeugend zu begegnen“. Nach Informationen des MfS soll der evangelische Pfarrer von Hohndorf bei Rößlers Eltern Zweifel gesät haben, ob sich in dem Sarg tatsächlich ihr Sohn befände. Jugendliche im Heimatort hätten bereits eine eigene Trauerfeier abgehalten. Um „feindlichen Kräften“ keine „Angriffsflächen für provokatorische Handlungen“ zu bieten, trafen sich am 9. September 1976 Mitarbeiter mehrerer MfS-Diensteinheiten mit dem zuständigen Militärstaatsanwalt. Der veranlasste die Überführung von Rößlers Leichnam aus dem zentralen NVA-Lazarett Bad Saarow nach Stollberg. Mitarbeiter der pathologischen Abteilung des Wismut-Bergarbeiterkrankenhauses Stollberg/ Niederdorf richteten die Leiche her und bahrten sie auf, damit die Eltern ihren Sohn eine Stunde vor der Beisetzung am Nachmittag des 10. September 1976 noch einmal sehen konnten. Trauerfeier und Beerdigung verliefen dann unter „operativen Absicherungsmaßnahmen“ des MfS ohne Zwischenfälle. Seitens des MfS „wurde alles veranlasst, um Pfarrer Winkler keine Gelegenheit für provozierende Handlungen bzw. Äußerungen zu geben“.

Was den zurückhaltend auftretenden Soldaten letztlich zur Fahnenflucht trieb, geht aus den überlieferten Unterlagen nicht hervor. Die Staatssicherheit fand lediglich heraus, Rößler sei „kontaktarm“ gewesen und „habe ständig Hilfe bei der Erfüllung militärischer Aufgaben benötigt“. In Rößlers Spind fand man einen Zettel mit einer Anschrift in Frankfurt am Main.

Siehe ergänzend zu diesem Fall die Biografie von Leo Hoffmann, der ebenfalls im Minenfeld des Grenzabschnitts bei Teistungen um das Leben kam.


Biografie von André Rößler, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/207-andre-roessler/, Letzter Zugriff: 29.03.2024