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Biografisches Handbuch

László Balogh

geboren am 7. April 1954 in Bonyhád (Ungarn) | erschossen am 22. Juni 1973 | Ort des Vorfalls: 1800 Meter südwestlich der Straße Spechtsbrunn-Tettau, Kreis Neuhaus am Rennweg (Thüringen)
Am 20. Juni 1973 lief das Visum des ungarischen Gastarbeiters László Balogh ab. Er hätte an diesem Tag die DDR verlassen müssen. Er wollte sich jedoch nicht von seiner Verlobten Sieglinde Bunde trennen und hatte den Wunsch zu studieren. Das Paar beschloss in den Westen zu flüchten, um dort seine Zukunftspläne zu verwirklichen. Am 22. Juni 1973, kurz nach Mitternacht, trat Sieglinde Bunde vor dem zweiten Grenzzaun auf eine Mine. Ein herbeigeeilter DDR-Grenzsoldat eröffnete das Feuer auf László Balogh.

Der 18-jährige ungarische Gastarbeiter László Balogh lernte im Sommer 1972 die 20-jährige Elektromonteurin Sieglinde Bunde aus Grimma kennen und verliebte sich in sie. Seine Aufenthaltsgenehmigung in der DDR endete am 20. Juni 1973. Lazlo Balogh wollte studieren, was ihm aber weder in Ungarn noch in der DDR ermöglicht wurde. Das Paar verlobte sich und Sieglinde Bunde stellte für sich und ihren zweijährigen Sohn einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik. Die DDR-Behörden beantworteten ihr Schreiben jedoch nicht. Ende Mai 1973 beschlossen die Verlobten, über die DDR-Grenze in die Bundesrepublik zu flüchten, um dort ihre Zukunftspläne zu verwirklichen. Einen ersten Versuch, sich der innerdeutschen Grenze zu nähern, unternahmen sie in der Nähe von Nordhausen. Sie wurden von einer Streife im Sperrgebiet festgenommen. Die beiden hatten vereinbart, dass László Balogh im Fall einer Festnahme so tun solle, als verstünde er kein Deutsch. Sieglinde Bunde erklärte dann bei der Vernehmung, sie habe mit ihrem Freund einen Ausflug gemacht, um ihm die Gegend zu zeigen. Dabei hätten sie sich verlaufen. Es war ihr zuvor in einem unbeobachteten Moment gelungen, die mitgeführte Landkarte und einen Kompass hinter einen Schrank des Umkleideraumes zu werfen, in den man sie vor der Vernehmung eingeschlossen hatte. Da dem Paar keine Fluchtabsichten nachzuweisen waren, entließ man die beiden wieder aus dem Gewahrsam.

Da sie befürchteten, nun überwacht zu werden, warteten sie noch drei Wochen, bis sie sich erneut auf den Weg ins Grenzgebiet machten. In Leipzig ging damals das Gerücht um, dass die DDR-Grenztruppen den Minengürtel wegen zahlreicher Fehlzündungen durch Tiere geräumt hätten, um die Grenzanlagen in Kürze mit modernen Selbstschussanlagen zu sichern. Das Paar glaubte deswegen, der Zeitpunkt, sei günstig, um die Grenzanlagen zu überwinden. Sieglinde Bunde gab ihren Sohn in die Obhut ihrer Eltern. Sie wollte für ihn nach gelungener Flucht seine Übersiedlung in den Westen erkämpfen. Am Abend des 20. Juni 1973 machte sich das Paar auf den Weg, zunächst mit dem Zug nach Saalfeld, dann mit einem Taxi bis kurz vor Neuhaus. Von dort aus liefen sie fast zwei Tage durch bewaldetes Gebiet in Richtung Grenze. Tagsüber versteckten sie sich und beobachteten die Grenzpatrouillen. Im Morgengrauen des 22. Juni 1973 gegen 3 Uhr schlichen sie sich dann näher an die Grenze heran. Dort entdeckten sie Warnschilder mit der Aufschrift „Achtung Minen, Lebensgefahr“. Trotz dieser Warnung hielten sie an ihrem Vorhaben fest und überquerten das mit Büschen bewachsene Grenzvorfeld, dann den befestigten Weg vor dem ersten etwa drei Meter hohen Grenzzaun. Diesen zu übersteigen, fiel ihnen nicht schwer. Sie halfen sich dabei gegenseitig.

Sieglinde Bunde gab 1992 gegenüber den Ermittlungsbehörden folgende Zeugenaussage über das nun folgende Geschehen im verminten Gelände ab: „Als wir uns aber dem zweiten Zaun so weit genähert hatten, daß ich ihn fast berühren konnte, trat ich auf eine Mine. Dabei wurde mir der rechte Unterschenkel abgerissen. László nahm mich daraufhin hoch und hob mich über den zweiten Zaun hinüber. László wollte nach dieser Detonation gar nicht mehr weitergehen. Ich habe ihm aber aus lauter Angst gesagt, wir müßten jetzt weiter. Daraufhin gab er mir Hilfestellung. Ich zog mich an ihm empor und er schob mich so weit hinauf, daß ich mich an der anderen Seite des Zaunes herabfallen lassen konnte. Als ich auf der anderen Seite des Zaunes lag, sah ich, wie Laszlo noch in dem Minenfeld Anlauf nahm und an dem Zaun hochsprang, um besser hinüberzukommen. Er war schon oben auf dem Zaun angelangt und wollte gerade herunterspringen, als geschossen wurde. Ich hörte nur einen einzigen Schuß.“ Einen Warnruf habe sie nicht gehört. „Nach dem Schuß fiel mein Verlobter direkt auf mich. Ich weiß noch, daß László meinen Namen ‚Siggi‘ rief, nachdem der Schuß gefallen war.“ Danach habe er nichts mehr gesagt, „und ich hörte ihn auch nicht mehr atmen. Ich spürte, daß er tot war, wollte dies aber auf keinen Fall wahrhaben. Ich habe geschrien und geweint.“ Nach einer kleinen Ewigkeit seien mehrere Grenzsoldaten gekommen, die mit der Bergung begannen. „Ich hielt es vor Schmerzen kaum noch aus. László hatte inzwischen ein blaufarbenes Gesicht. Die Soldaten des Bergetrupps schnitten zuerst den ersten Zaun auf, dann legten sie eine hydraulische Brücke zum zweiten Zaun hin, um so die Minen zu überwinden. Den zweiten Zaun schnitten sie ebenfalls durch, um an uns heranzukommen. László wurde dann von mir heruntergerollt; ihn ließen sie zunächst liegen. Ich wurde auf eine Trage gelegt und über die Metallbrücke hinübergebracht. Man stellte die Trage auf der Betonstraße ab und sagte zu einem ca. 19-jährigen Soldaten, er solle mich bewachen. Während die anderen Soldaten mit László und dem Zaun beschäftigt waren, strich mir der junge Soldat die Haare aus dem Gesicht und sagte zu mir, daß mein ganzes Gesicht verbrannt sei. Der junge Soldat sagte immer wieder zu mir: ‚Wie konntet ihr nur sowas machen, du dummes Mädchen!‘ Dabei weinte er wie ein kleiner Junge. Ich sehe ihn immer noch ganz deutlich vor mir mit seinen roten Haaren und Sommersprossen, und wie unablässig die Tränen herunterliefen.“

Hans-Jürgen T., damals Gefreiter der Grenztruppen und Kraftfahrer, hatte die Minenbrücke zum Unglücksort transportiert. Nachdem die Brücke verlegt war, sollte er beim Fahrzeug bleiben. Der im Bergetrupp eingesetzte Gottfried S. sagte als Zeuge am 12. August 1992 den Ermittlern, er sei nicht zuletzt wegen dieses Vorfalls aus der SED ausgetreten. Er diente damals als Gefreiter in der 10. Kompanie des Grenzregiments Spechtsbrunn und musste mit Kameraden die Minenbrücke verlegen. Kompaniechef Baumann habe am Zaun gestanden und den Soldaten des Rettungstrupps befohlen, Waffen und Magazine abzulegen. „Dann lud Kompaniechef Baumann demonstrativ seine Kalaschnikow und hielt sie schußbereit schräg nach oben vor dem Körper. Erst jetzt durften wir einzeln und unbewaffnet über die Minenbrücke“. Hans-Jürgen T. beobachtete das Geschehen von seinem Kraftfahrzeug aus. Er konnte die beiden Flüchtlinge gut sehen. Bei seiner Zeugenvernehmung im Jahr 1992 sagte er aus: „Der Mann war völlig still, die Frau war halb aufgestützt. Sie hat geweint und geschrien. Ich war der Meinung, daß der Mann tot war, weil er auf dem Gesicht lag. Zuerst wurde die Frau über die Minenbrücke gebracht und mit einer Trage bei mir abgelegt. Ich hatte die Aufgabe, bei ihr zu bleiben. Die junge Frau war fix und fertig. Sie stand offenbar unter Schock. Man hatte sie mit einer Trage hinter das Fahrzeug gelegt, damit man sie von westlicher Seite nicht sehen konnte. Ich kümmerte mich um sie. Ich versuchte sie zu trösten und streichelte ihr Gesicht. Ich sah, daß ihr Gesicht verbrannt war. Sie war auch sonst schwer verletzt, die Mine hatte ihr rechtes Bein am Unterschenkel abgefetzt. Die Wunde hat kaum geblutet. Mich hat es so erschüttert, wie man mit Menschen umgeht. Mir wurde gesagt, daß ein Sankra käme, aber ich habe keinen gesehen. Ich wollte die Frau beruhigen und trösten, soweit das möglich war. Dabei habe ich mit meinen 19 Jahren selbst weinen müssen.“

Sieglinde Bunde wurde etwa zwei Stunden nach der Minendetonation in das Krankenhaus Gräfenthal eingeliefert, wo ein Teil ihres zerfetzten Unterschenkels amputiert werden musste. Nach etwa dreieinhalb Wochen wurde sie in das Leipziger Haftkrankenhaus verlegt. Dort blieb sie weitere zweieinhalb Wochen, bis man sie in die Haftanstalt der Staatssicherheit in der Leipziger Beethovenstraße überstellte. Dort wurde sie mehrere Wochen lang immer wieder vernommen. Das Kreisgericht Grimma verurteilte Frau Bunde im Juni 1973 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und einem Monat. Sie verbüßte ihre Haftstrafe bis August 1975 im Frauengefängnis „Schloß Hoheneck“. Der Krankenhausaufenthalt und die Untersuchungshaft wurden auf die Strafe angerechnet. Eine vorzeitige Entlassung kam nicht in Betracht, da Sieglinde Bunde, wie es in einem Stasi-Vermerk heißt, weiter darauf beharrte, „nur in der BRD ein Leben nach ihren Vorstellungen führen zu können“ und weiter alles versuchen wolle, um nach dort zu gelangen. Noch in der Haft stellte Frau Bunde einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik. Das Ministerium für Staatssicherheit lehnte eine Entlassung von Sieglinde Bunde in die Bundesrepublik zunächst mit der Begründung ab, dass „die Straftat der B. und deren Folgen geeignet sind, politisch feindlich gegen die DDR mißbraucht zu werden, und die B. sowohl aus Haß gegen die DDR als auch aus materiellem Interesse offensichtlich selbst an diesem Mißbrauch interessiert“ sei. Da Frau Bunde auch in der Folgezeit weitere Ausreiseanträge stellte und nicht von ihrer Absicht abzubringen war, empfahl die MfS-Kreisdienststelle Grimma im Dezember 1977, dem Übersiedlungsersuchen von Sieglinde Bunde stattzugeben und sie gemeinsam mit ihrem siebenjährigen Sohn im Januar 1978 aus der DDR-Staatsbürgerschaft zu entlassen. Dem stimmten sowohl die MfS-Bezirksverwaltung Leipzig als auch die Zentrale Koordinierungsgruppe des MfS in Berlin zu.

Nach der Wiedervereinigung wurde sowohl gegen den Todesschützen Volker Engelbrecht als auch gegen acht seiner Vorgesetzten Ermittlungsverfahren eingeleitet. Der damals 19-jährige Gefreite Engelbrecht hatte mit einem leichten Maschinengewehr (LMG) im freistehenden Anschlag aus etwa 100 Metern Entfernung auf die Flüchtlinge geschossen, obwohl ihm die Streuung der Waffe bekannt war, die einen Zielschuss auf die Beine der Flüchtenden gar nicht zuließ. Engelbrecht und sämtliche am Einsatz beteiligte Grenzsoldaten wurden „für ihr entschlossenes Handeln und die zuverlässige Grenzsicherung“ durch den Minister für Nationale Verteidigung ausgezeichnet, wobei der Schütze die Verdienstmedaille der NVA in Bronze erhielt.

Engelbrecht sagte 1992 in seiner Vernehmung: „Das war ein Befehl, daß ein Grenzdurchbruch mit allen Mitteln zu verhindern sei. Wenn ich mich nicht genau an diese Vorschriften gehalten hätte, wäre ich wegen Befehlsverweigerung zur Verantwortung gezogen worden. Ich wäre vor ein Militärgericht gestellt worden. Wenn der Armeegeneral Kessler heute behauptet, daß es keinen Schießbefehl gegeben hatte, so ist das gelogen. Bei jeder Vergatterung war von Festnahme oder Vernichtung die Rede. Unter Vernichtung durften wir nichts anderes als das Erschießen der Grenzverletzer verstehen. Wenn ich nicht voll im Sinne unserer Führung gehandelt hätte, wäre ich dafür nicht ausgezeichnet worden. Wenn es falsch gewesen wäre, hätte man mich nicht ausgezeichnet, sondern zur Verantwortung gezogen.“ Er habe sich vorher nie über die Möglichkeit eines Schusswaffengebrauchs Gedanken gemacht. „Als es dann geschah, war mein Verstand ausgeschaltet. Ich habe mir erst später immer wieder Vorwürfe gemacht, obwohl man mir von der Führungsseite immer zu verstehen gab, daß ich mich vorbildlich verhalten hätte. Die Vorwürfe kamen nur von mir allein. Ich fühlte mich auch nicht als der beste Grenzsoldat, obwohl ich als solcher ausgezeichnet wurde. Meine Schweigepflicht verbot es mir, mich mit Kollegen, Freunden oder Verwandten über den Vorfall zu unterhalten. Das hat meine Situation noch mehr erschwert. Obwohl man uns immer eingeprägt hatte, daß Grenzverletzer Verbrecher und Staatsfeinde seien, habe ich mir nach dem Schußwaffengebrauch immer wieder Vorwürfe gemacht, daß ich ja einen Menschen getötet habe. Bis zur Wende konnte ich mir immer wieder einreden, daß dieser Schußwaffengebrauch rechtmäßig gewesen sei. Als nach der Wende die Prozesse gegen die ehemaligen Grenzsoldaten begannen, die Grenzverletzer erschossen hatten, dachte ich, daß ich jetzt auch zur Rechenschaft gezogen würde. Ich hatte Angst, zumal ich nicht abschätzen konnte, was mich nun von Seiten der Justiz erwartete. Schließlich muß ich nicht nur für mich denken, sondern auch noch für meine Familie. Ich habe angefangen zu trinken und war eine Zeitlang dem Alkohol verfallen. Inzwischen habe ich aber gemerkt, daß das keine Lösung ist. Auch hier mußte ich wieder an meine Familie denken. Ich hatte zwischenzeitlich auch Selbstmordgedanken, die ich dann wieder verwarf. Inzwischen bin ich so weit gefestigt, daß ich mich dem Verfahren stellen möchte.“ Volker Engelbrecht starb vor der Eröffnung des Gerichtsverfahrens. Auch zwei seiner mitangeklagten Befehlsgeber verstarben 1996 und 1999. Das Landgericht Erfurt verurteilte schließlich vier höhere Offiziere der Grenztruppen wegen ihrer Anordnung zum Schusswaffengebrauch, so auch im Falle László Baloghs, zu Bewährungsstrafen zwischen ein und zwei Jahren.


Biografie von László Balogh, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/196-lazlo-balogh/, Letzter Zugriff: 25.04.2024