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Biografisches Handbuch

Hans-Ulrich Kilian

geboren am 2. Mai 1944 in Saalfeld | erschossen am 20. Juni 1963 | Ort des Vorfalls: Großgeschwendaer Schlucht, Raum Probstzella (Thüringen)
BildunterschriftHans-Ulrich Kilian
BildquellePrivat, Eginhard Velke
Quelle: Privat, Eginhard Velke
Die beiden Saalfelder Freunde Wilfried Henschel und Hans-Ulrich Kilian versuchten im Sommer 1963 gemeinsam die Grenze zwischen Thüringen und Bayern zu durchbrechen. Nach Überwindung des ersten Zauns wurden sie von DDR-Grenztruppen gestellt. Kilian wurde aus zwei bis drei Metern Entfernung angeschossen und starb im Krankenhaus.

Hans-Ulrich Bernd Kilians Mutter arbeitete als Kellnerin, über seinen Vater ist nichts bekannt. Kilian und sein Freund Eginhard Velke besuchten zusammen die Geschwister-Scholl-Schule. In der Freizeit bastelten beide an Fahrrädern und später an Mopeds oder bauten kleine Motorboote. Ab 1958 ging Hans-Ulrich Kilian in Unterwellenborn zur Schule. Er begann 1960 im VEB Kraftfahrzeuginstandsetzung Saalfeld eine Lehre als Motorenschlosser, die er im Februar 1963 abschloss. Anschließend war er bis zu seinem Fluchtversuch in diesem Beruf tätig.

Der junge Saalfelder Gerd F. erwarb 1960 eine alte Scheune in der Stadt. Eine Gruppe junger Leute, zu der auch Wilfried Henschel und Hans-Ulrich Kilian gehörten, baute sie tagsüber zu einem Wohnhaus aus und feierte dort abends so manches Fest. Kilian war als Judoka und Langläufer aktiv. Seine Freunde beschrieben ihn als groß, gutaussehend, beliebt, lebenslustig, sehr intelligent und aufgeschlossen. Im Freundeskreis war man allgemein unzufrieden mit den herrschenden Verhältnissen, die Jugendlichen wollten vor allem frei leben. Einige verließen die DDR und meldeten sich per Post aus dem Westen. Etwa ein Jahr vor dem Fluchtversuch sprach Hans-Ulrich Kilian nach Angaben seines Mitflüchtlings Wilfried Henschel erstmals davon, ihnen zu folgen. Roman Grafe zitiert Eginhard Velke mit den Worten: „Uli wollte von zuhause weg, er wollte sein eigenes Leben leben. Die andere Welt hat ihn gereizt, die Freiheit. Er hatte auch eine Sehnsucht gehabt nach den Weiten Kanadas.“

Wilfried Henschel wollte zunächst in Saalfeld bleiben. Erst als sich mehr und mehr Freunde in den Westen absetzten und es Probleme im Elternhaus gab, ließ er sich von Hans-Ulrich Kilian zu einem Fluchtversuch überreden. Den anderen Freunden sagten die beiden aber nichts. Das MfS befragte nach dem Tod Kilians auch dessen 17-jährige Stiefschwester Hanni D. Diese gab zu, das Vorhaben geahnt zu haben, da sich ihr Bruder einen Kompass beschafft hatte und ein feststehendes Messer bei sich trug. Daraufhin sprach sie die beiden an, als sie ihre Rucksäcke schwarz färbten. Henschel und Kilian offenbarten ihr die Fluchtabsicht und baten, sie nicht zu verraten.

Die beiden Freunde planten zunächst mit der Bahn bis Leutenberg ins Freibad zu fahren. Von dort sollte es abends zu Fuß mit Karte und Kompass zur Grenze gehen. Ein dort möglicherweise vorhandenes Minenfeld wollten sie heil überwinden, indem sie mit einer ausziehbaren Rübenhacke jeweils ein paar Meter vor sich im Boden stocherten, um so die Tretminen auszulösen. Wilfried Henschel erinnerte sich später: „Wir sagten uns: Entweder es klappt oder es klappt nicht. Man rechnet damit, dass man Glück hat. Viele haben es ja geschafft. Viele haben es nicht geschafft, das wussten wir auch. Aber dass es so endet, haben wir nicht gedacht.“

Am 19. Juni machten sich die beiden gegen 21 Uhr in Leutenberg auf den Weg. Bis zur Grenze hatten sie einen längeren Fußmarsch zu bewältigen. Nachdem sie die erste Drahtsperre durchschnitten hatten, wurden sie gegen 2 Uhr von einer Streife in der Großgeschwendaer Schlucht entdeckt. Die Flüchtlinge verbargen sich zunächst im Gras. Erst nach mehrmaliger Aufforderung und der Abgabe von Warnschüssen standen sie auf und bewegten sich in Richtung der Grenzer. Plötzlich fiel ein Schuss, der Hans-Ulrich Kilian aus zwei bis drei Metern Entfernung in den Bauch traf. Er stürzte zu Boden und blieb schreiend und röchelnd liegen. Der Schütze Dieter Löbel behauptete später, der Flüchtling hätte, als er auf ihn zukam, ein Messer in der Hand gehalten. Hans-Ulrich Kilian wurde in das Kreiskrankenhaus Gräfenthal eingeliefert, Wilfried Henschel zum Grenzkommando Probstzella abgeführt.

Die Grenztruppen gingen in ihrer Tagesmeldung zunächst davon aus, dass für Kilian keine Lebensgefahr bestand. Dies traf nicht zu. Obwohl nach Auskunft des Chirurgen gegen 16 Uhr bereits feststand, dass Kilian in den nächsten Stunden sterben würde – das Geschoss hatte Magen, Wirbelsäule und Rückenmark verletzt – versuchten die Ärzte ihn durch eine Notoperation zu retten. Als der Arzt den Schwerverletzten fragte, wie er sich fühle, antwortete dieser laut MfS-Protokoll: „Hoffentlich gehe ich bald drauf, damit diese Quälerei ein Ende hat.“ Auf weitere Ansprache reagierte er nicht mehr. Gegen 18.30 Uhr versagte sein Kreislauf.

Eginhard Velke berichtete, am 21. oder 22. Juni sei die Nachricht vom Tod seines alten Freundes eingetroffen. Das MfS habe Kilians Mutter gedrängt, ihren Sohn nicht aufbahren zu lassen. Doch sie bestand darauf. Etwa 40 Freunde hätten sich an der ausgebauten Scheune getroffen und seien von dort aus geschlossen zur Trauerfeier gegangen. Sie konnten dort den Toten noch einmal sehen, bevor der Sarg geschlossen wurde. Der Trauerredner sprach von einem tragischen Unglücksfall. Mindestens zehn Stasi-Mitarbeiter beobachteten die Trauerzeremonie und fotografierten die Anwesenden. Das MfS versuchte später herauszufinden, wer das Abspielen des revolutionären russischen Trauerlieds „Unsterbliche Opfer“ veranlasst hatte.

Der Staatssicherheitsdienst beschlagnahmte in Kilians Zimmer zwei Schreibhefte, das er als von selbst auf dem Umschlag mit der Aufschrift „Sammel-Album für Schauspieler“ versehen hatte. Es enthielt eingeklebte Sammelbildchen von westlichen Schauspielern und Sängern, überwiegend aus den 1950er Jahren, darunter Peter Kraus, Sophia Loren, Horst Buchholz, Anita Ekberg und Cornelia Froboes. Auf das Deckblatt des zweiten Schreibheftes hatte Kilian eine Micky Maus gezeichnet. Auf den Kopf des letzten Blattes schrieb er: „Der schönste Tag in meinem Leben“. Darunter befindet sich keine Eintragung.

Der Tod Kilians kam bei abendlichen Treffen seines Freundeskreises immer wieder zur Sprache. Die Jugendlichen veranstalteten eine Trauerfeier für ihren verstorbenen Freund. In der Scheune, in der sie sich oft trafen, hängten sie ein Bild Kilians mit Trauerflor auf. Das MfS beobachtete die Jugendlichen in einem „Operativen Vorgang“, der den Decknamen „Ratten“ trug. Es setzte einen jugendlichen Informanten auf den Freundeskreis an, der über angebliche Morddrohungen eines jungen Mannes gegen den ihm unbekannten Todesschützen berichtete: „Wenn ich den Kerl erwische, bringe ich ihn um.“ Im September 1963 wurden vier Freunde Kilians wegen angeblicher Propaganda, Mordhetze, Morddrohung und Verherrlichung des Faschismus zu Haftstrafen zwischen 22 und 34 Monaten verurteilt.

Staatsicherheit und Staatsanwaltschaft stellten im Zuge des Ermittlungsverfahrens gegen Henschel die Flucht noch einmal nach. In Stasiverhören soll der überlebende Flüchtling Wilfried Henschel angeblich zugegeben haben, sie hätten sich wenn nötig auch gewaltsam gegen Grenzsoldaten verteidigt. Im September 1963 verurteilte ihn das Bezirksgericht Gera zu fünf Jahren Gefängnis wegen „versuchter Republikflucht“ sowie geplanter Gewalttaten gegen Grenzsicherungskräfte und -anlagen. Die beiden Flüchtlinge hätten ein Feuergefecht zwischen Grenzsicherungskräften beider Seiten auslösen können und damit „unter Umständen einen von den westlichen Ultras seit langem geplanten Krieg.“ Erst bei der Verlesung der Anklage erfuhr Wilfried Henschel vom Tod seines Freundes. Ein Prozessbericht des Staatssicherheitsdienstes enthält die Information, dass der Staatsanwalt ursprünglich nur dreieinhalb Jahre Haft beantragen wollte. Er erhielt aber vom DDR-Generalstaatsanwalt die schriftliche Weisung, den Strafantrag auf fünf Jahre zu erhöhen. Der Vorsitzende des zuständigen Strafsenats habe bei der Antragsstellung „auffällig“ den Kopf geschüttelt, trotzdem entsprach das Gericht dem Ersuchen der Staatsanwaltschaft.

Die Mutter Hans-Ulrich Kilians verkraftete den Tod ihres Sohnes nicht und starb mit 51 Jahren. Sein jüngerer Bruder Peter, zur Tatzeit zwölf Jahre alt, musste nach eigenen Angaben als 19-Jähriger wegen Staatsverleumdung für 18 Monate ins Gefängnis: „Ich hatte zur Volkspolizei gesagt: ‚Ihr habt Methoden wie die Nazis‘“. Peter Kilian erstattete am 5. Juni 1990 beim Kreiskriminalamt in Saalfeld Strafanzeige wegen Mordes an seinem Bruder. Die Ermittlungen übernahm die ZERV nach der Wiedervereinigung. Der Todesschütze Dieter Löbel war schon 1970 verstorben, das Verfahren gegen seinen Postenführer Manfred W. stellte die Staatsanwaltschaft II beim Berliner Landgericht 1992 ein, da er die Schusswaffenanwendung nicht befohlen hatte und „im Vertrauen auf die Rechtsgültigkeit der damaligen Befehlslage handelte, die zumindest nicht ‚offensichtlich‘ rechtswidrig war“.


Biografie von Hans-Ulrich Kilian, Biografisches Handbuch "Eiserner Vorhang" https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/article/115-hans-ulrich-kilian/, Letzter Zugriff: 25.04.2024